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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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dann durch das "Rechtsmittel der weitern Vertheidigung", die Appellation,
welche schon bei jeder Aeußerung der Unzufriedenheit mit dem ersten Erkennt¬
niß seitens des Angeklagten, bei schweren Fällen selbst wider seinen Willen
dem Vertheidiger binnen 10 Tagen gestattet war. Der Vertheidiger durfte
zwar bei Verhör und Zeugenvernehmung zugegen sein, aber keine Unterredung
mit dem Angeklagten unter vier Augen halten und die Momente der Ver¬
theidigung nnr den Acten entnehmen. Die Appellation hatte zwar Suspensiv-
effect; aber, selbst wenn ein ganz neues Verfahren angeordnet wurde, wieder¬
holten sich in ihm doch alle Hauptübelstände des vorigen, und es konnte
außerdem geschehn, daß ein freisprechendes Urtheil zweiter Instanz erst eintraf,
nachdem der Freigesprochene seine Strafe bereits verbüßt hatte. Bei Urtheilen
auf mehr als sechsmonatliche Strafbarkeit erfolgte nämlich, wenn der Ange¬
klagte verhaftet war und sich nicht selbst unterhalten konnte, der Antritt der
Strafe, trotz der Appellation (Cr. Ort. §. 557. 558). Daß nun ein Urtheil
zweiter Instanz länger als sechs Monate auf sich warten ließ, war bei den
vielen Geschäften eines Obergcrichts und irgend welcher Nachlässigkeit der
Subalternen sehr möglich.

Bloße Reformen konnten solchen Fehlern nicht abhelfen. Es mußte im
Princip mit der Jnauisitionsmaxime gebrochen werden, wie dies durch die
Verordnungen vom Januar 1849 und die nachfolgenden Ergänzungsgesetze
der ersten fünfziger Jahre geschehen ist. Wir haben die Veränderungen der
Gerichtsverfassung und des Verfahrens bis zur Versetzung in den Anklagestand
bereits verfolgt: die Aufhebung der Exemtionen und Patrimonialgerichte,
welche einer gleichmäßig durchgeführten collegialischen Gerichtsverfassung un¬
überwindliche Hindernisse entgegengesetzt hatten; Einführung der Anklage¬
maxime und der Staatsanwaltschaft, welche den Richter wieder zum un¬
parteiischen Urthciler macht, den Angeklagten als ziemlich gleichberechtigte
Partei dem Ankläger gegenüberstellt; die Trennung der Voruntersuchung vom
Hanptvcrfcchren. dessen Umgestaltung uns darzustellen bleibt. Vor allem ist
an Stelle der actenmäßigen Relation aus dritter Hand der persönliche Ein¬
druck des Angeklagten und der Zeugen in einem öffentlichen, mündlichen und
contradictorischen Verfahren getreten, durch das Aufhören der Parteistellung
des Richters, die Oeffentlichkeit des Verfahrens, die Mehrheit der Urtheilen¬
den, welche, von allem Sammeln des Anklage- und Vertheidigungsmaterinls
befreit, ihre ganze geistige Kraft dem Urtheile zuwenden können, die Möglich¬
keit gegeben, jede feste Beweisregel fallen zu lassen und dem Richter zur
Pflicht zu machen, "nach seiner freien, aus dem Inbegriff der vor ihm er¬
folgten Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung zu entscheiden, ob der An¬
geklagte schuldig oder nichtschuldig sei" (§, 22. der Verord. v. 3. Jan. 49.).
Der Angeklagte wird vor die Schranken geführt, die Identität festgestellt, die


dann durch das „Rechtsmittel der weitern Vertheidigung", die Appellation,
welche schon bei jeder Aeußerung der Unzufriedenheit mit dem ersten Erkennt¬
niß seitens des Angeklagten, bei schweren Fällen selbst wider seinen Willen
dem Vertheidiger binnen 10 Tagen gestattet war. Der Vertheidiger durfte
zwar bei Verhör und Zeugenvernehmung zugegen sein, aber keine Unterredung
mit dem Angeklagten unter vier Augen halten und die Momente der Ver¬
theidigung nnr den Acten entnehmen. Die Appellation hatte zwar Suspensiv-
effect; aber, selbst wenn ein ganz neues Verfahren angeordnet wurde, wieder¬
holten sich in ihm doch alle Hauptübelstände des vorigen, und es konnte
außerdem geschehn, daß ein freisprechendes Urtheil zweiter Instanz erst eintraf,
nachdem der Freigesprochene seine Strafe bereits verbüßt hatte. Bei Urtheilen
auf mehr als sechsmonatliche Strafbarkeit erfolgte nämlich, wenn der Ange¬
klagte verhaftet war und sich nicht selbst unterhalten konnte, der Antritt der
Strafe, trotz der Appellation (Cr. Ort. §. 557. 558). Daß nun ein Urtheil
zweiter Instanz länger als sechs Monate auf sich warten ließ, war bei den
vielen Geschäften eines Obergcrichts und irgend welcher Nachlässigkeit der
Subalternen sehr möglich.

Bloße Reformen konnten solchen Fehlern nicht abhelfen. Es mußte im
Princip mit der Jnauisitionsmaxime gebrochen werden, wie dies durch die
Verordnungen vom Januar 1849 und die nachfolgenden Ergänzungsgesetze
der ersten fünfziger Jahre geschehen ist. Wir haben die Veränderungen der
Gerichtsverfassung und des Verfahrens bis zur Versetzung in den Anklagestand
bereits verfolgt: die Aufhebung der Exemtionen und Patrimonialgerichte,
welche einer gleichmäßig durchgeführten collegialischen Gerichtsverfassung un¬
überwindliche Hindernisse entgegengesetzt hatten; Einführung der Anklage¬
maxime und der Staatsanwaltschaft, welche den Richter wieder zum un¬
parteiischen Urthciler macht, den Angeklagten als ziemlich gleichberechtigte
Partei dem Ankläger gegenüberstellt; die Trennung der Voruntersuchung vom
Hanptvcrfcchren. dessen Umgestaltung uns darzustellen bleibt. Vor allem ist
an Stelle der actenmäßigen Relation aus dritter Hand der persönliche Ein¬
druck des Angeklagten und der Zeugen in einem öffentlichen, mündlichen und
contradictorischen Verfahren getreten, durch das Aufhören der Parteistellung
des Richters, die Oeffentlichkeit des Verfahrens, die Mehrheit der Urtheilen¬
den, welche, von allem Sammeln des Anklage- und Vertheidigungsmaterinls
befreit, ihre ganze geistige Kraft dem Urtheile zuwenden können, die Möglich¬
keit gegeben, jede feste Beweisregel fallen zu lassen und dem Richter zur
Pflicht zu machen, „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der vor ihm er¬
folgten Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung zu entscheiden, ob der An¬
geklagte schuldig oder nichtschuldig sei" (§, 22. der Verord. v. 3. Jan. 49.).
Der Angeklagte wird vor die Schranken geführt, die Identität festgestellt, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/123>, abgerufen am 22.07.2024.