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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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zuführen. Die Crim. Ordnung untersagt nun zwar alle körperlichen Mi߬
handlungen, Drohungen, Vorspiegelungen, sogar alle captiösen und Suggestiv¬
fragen (§§ 66, 285, 286). Fast in demselben Athemzuge gestattet sie dennoch
(§. 292, 293) "gegen freches Lügen und verstecktes Leugnen" durch den Be¬
schluß des Collegii, von welchem kein Recurs stattfindet, auf Antrag des In-
quirenten, die Züchtigung des Angeklagten! Das ist fast noch schlimmer, als
wenn der Inquirent selbst die Tortur anwenden lassen durfte, jedoch unter bestimm¬
ten gesetzlichen Voraussetzungen, wie die Carolina dies gestattet. -- Alle übrigni
Beweismittel, die Glaubwürdigkeit der Zeugen, die Schwere der Jndicien
wird sorgfältig und gewissenhaft abgewogen, dem Ermessen des Richters da¬
bei nur ein kleiner Spielraum gelassen. Wenn ein voller Beweis nach diesen
Vorschriften aber nicht erbracht werden kann, so führt der geheime Grundfehler
des Systems nun zu zwei neuen Abnormitäten: der Verdachtstrafe (xoeiM
tixtraoi-ckmaria) und der vorläufigen Freisprechung (alzsolutio ad iristÄNtlg.).
Bei dieser trägt der Freigesprochne die Kosten und kann auch unter Polizei¬
aufsicht gestellt werden (§. 410, 617), bei jener darf nie die volle gesetzliche
Strafe, nie aus Tod und lebenslängliches Zuchthaus, mit dieser Beschrän¬
kung aber dennoch nach dem Ermessen des Richters erkannt werden. Dort
wird also dem ohne genügende Veranlassung und gewiß oft auch unschuldig
Jnquirirten nicht nur keine Genugthuung, sondern auch Kosten und weitere
Belästigung; hier entgeht der erfahrne Verbrecher durch schlaues Leugnen der
verdienten Strafe, welche den weniger geübten Anfänger, der sich zum Ge-
ständniß hat verführen lassen, in vollster Härte trifft. Aber wo eine Beweis-
theorie nach Gesetzesparagraphen und nicht die Ueberzeugung vertrauens¬
würdiger Männer über die Schuld entscheidet, sind solche Auskunftsmittel un¬
entbehrlich; wo ein einzelner Richter hinter verschlossnen Thüren über Ehre,
Freiheit und Leben von Menschen zu urtheilen hat, ist wieder eine geregelte
Beweistheorie Nothwendigkeit, ja Wohlthat. Zwar waren alle Obergerichte
und ein kleiner Theil der Untergeriehte, deren Kompetenz übrigens nicht vier
Wochen Gefängniß oder 50 Nthlr. Geldstrafe überstieg, collegialisch besetzt.

Aber die Untersuchung erfolgte doch durch den Einzelrichtcr, und was
er in den Acten von Thatsachen und Ansichten zusammengebracht hatte, war
das Material, aus dem ein andrer Richter, wo es nämlich mehr als einen
gab -- die Relation mit motivirten Urtheil fertigte. Auf sie hin stimmte
das Collegium über Schuld - und Strafmaß mit Majorität ab, ohne
einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten, Zeugen und Thatbestand
empfangen, selbst ohne den Inhalt der Acten anders als durch die Anschauung
eines Referenten, resp, noch eines Korreferenten kennen gelernt zu haben.
Dagegen suchte man wieder dem Angeklagten zu helfen: Einmal durch Zu¬
ordnung eines Vertheidigers, den er in schweren Fällen annehmen mußte,


zuführen. Die Crim. Ordnung untersagt nun zwar alle körperlichen Mi߬
handlungen, Drohungen, Vorspiegelungen, sogar alle captiösen und Suggestiv¬
fragen (§§ 66, 285, 286). Fast in demselben Athemzuge gestattet sie dennoch
(§. 292, 293) „gegen freches Lügen und verstecktes Leugnen" durch den Be¬
schluß des Collegii, von welchem kein Recurs stattfindet, auf Antrag des In-
quirenten, die Züchtigung des Angeklagten! Das ist fast noch schlimmer, als
wenn der Inquirent selbst die Tortur anwenden lassen durfte, jedoch unter bestimm¬
ten gesetzlichen Voraussetzungen, wie die Carolina dies gestattet. — Alle übrigni
Beweismittel, die Glaubwürdigkeit der Zeugen, die Schwere der Jndicien
wird sorgfältig und gewissenhaft abgewogen, dem Ermessen des Richters da¬
bei nur ein kleiner Spielraum gelassen. Wenn ein voller Beweis nach diesen
Vorschriften aber nicht erbracht werden kann, so führt der geheime Grundfehler
des Systems nun zu zwei neuen Abnormitäten: der Verdachtstrafe (xoeiM
tixtraoi-ckmaria) und der vorläufigen Freisprechung (alzsolutio ad iristÄNtlg.).
Bei dieser trägt der Freigesprochne die Kosten und kann auch unter Polizei¬
aufsicht gestellt werden (§. 410, 617), bei jener darf nie die volle gesetzliche
Strafe, nie aus Tod und lebenslängliches Zuchthaus, mit dieser Beschrän¬
kung aber dennoch nach dem Ermessen des Richters erkannt werden. Dort
wird also dem ohne genügende Veranlassung und gewiß oft auch unschuldig
Jnquirirten nicht nur keine Genugthuung, sondern auch Kosten und weitere
Belästigung; hier entgeht der erfahrne Verbrecher durch schlaues Leugnen der
verdienten Strafe, welche den weniger geübten Anfänger, der sich zum Ge-
ständniß hat verführen lassen, in vollster Härte trifft. Aber wo eine Beweis-
theorie nach Gesetzesparagraphen und nicht die Ueberzeugung vertrauens¬
würdiger Männer über die Schuld entscheidet, sind solche Auskunftsmittel un¬
entbehrlich; wo ein einzelner Richter hinter verschlossnen Thüren über Ehre,
Freiheit und Leben von Menschen zu urtheilen hat, ist wieder eine geregelte
Beweistheorie Nothwendigkeit, ja Wohlthat. Zwar waren alle Obergerichte
und ein kleiner Theil der Untergeriehte, deren Kompetenz übrigens nicht vier
Wochen Gefängniß oder 50 Nthlr. Geldstrafe überstieg, collegialisch besetzt.

Aber die Untersuchung erfolgte doch durch den Einzelrichtcr, und was
er in den Acten von Thatsachen und Ansichten zusammengebracht hatte, war
das Material, aus dem ein andrer Richter, wo es nämlich mehr als einen
gab — die Relation mit motivirten Urtheil fertigte. Auf sie hin stimmte
das Collegium über Schuld - und Strafmaß mit Majorität ab, ohne
einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten, Zeugen und Thatbestand
empfangen, selbst ohne den Inhalt der Acten anders als durch die Anschauung
eines Referenten, resp, noch eines Korreferenten kennen gelernt zu haben.
Dagegen suchte man wieder dem Angeklagten zu helfen: Einmal durch Zu¬
ordnung eines Vertheidigers, den er in schweren Fällen annehmen mußte,


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[0122] zuführen. Die Crim. Ordnung untersagt nun zwar alle körperlichen Mi߬ handlungen, Drohungen, Vorspiegelungen, sogar alle captiösen und Suggestiv¬ fragen (§§ 66, 285, 286). Fast in demselben Athemzuge gestattet sie dennoch (§. 292, 293) „gegen freches Lügen und verstecktes Leugnen" durch den Be¬ schluß des Collegii, von welchem kein Recurs stattfindet, auf Antrag des In- quirenten, die Züchtigung des Angeklagten! Das ist fast noch schlimmer, als wenn der Inquirent selbst die Tortur anwenden lassen durfte, jedoch unter bestimm¬ ten gesetzlichen Voraussetzungen, wie die Carolina dies gestattet. — Alle übrigni Beweismittel, die Glaubwürdigkeit der Zeugen, die Schwere der Jndicien wird sorgfältig und gewissenhaft abgewogen, dem Ermessen des Richters da¬ bei nur ein kleiner Spielraum gelassen. Wenn ein voller Beweis nach diesen Vorschriften aber nicht erbracht werden kann, so führt der geheime Grundfehler des Systems nun zu zwei neuen Abnormitäten: der Verdachtstrafe (xoeiM tixtraoi-ckmaria) und der vorläufigen Freisprechung (alzsolutio ad iristÄNtlg.). Bei dieser trägt der Freigesprochne die Kosten und kann auch unter Polizei¬ aufsicht gestellt werden (§. 410, 617), bei jener darf nie die volle gesetzliche Strafe, nie aus Tod und lebenslängliches Zuchthaus, mit dieser Beschrän¬ kung aber dennoch nach dem Ermessen des Richters erkannt werden. Dort wird also dem ohne genügende Veranlassung und gewiß oft auch unschuldig Jnquirirten nicht nur keine Genugthuung, sondern auch Kosten und weitere Belästigung; hier entgeht der erfahrne Verbrecher durch schlaues Leugnen der verdienten Strafe, welche den weniger geübten Anfänger, der sich zum Ge- ständniß hat verführen lassen, in vollster Härte trifft. Aber wo eine Beweis- theorie nach Gesetzesparagraphen und nicht die Ueberzeugung vertrauens¬ würdiger Männer über die Schuld entscheidet, sind solche Auskunftsmittel un¬ entbehrlich; wo ein einzelner Richter hinter verschlossnen Thüren über Ehre, Freiheit und Leben von Menschen zu urtheilen hat, ist wieder eine geregelte Beweistheorie Nothwendigkeit, ja Wohlthat. Zwar waren alle Obergerichte und ein kleiner Theil der Untergeriehte, deren Kompetenz übrigens nicht vier Wochen Gefängniß oder 50 Nthlr. Geldstrafe überstieg, collegialisch besetzt. Aber die Untersuchung erfolgte doch durch den Einzelrichtcr, und was er in den Acten von Thatsachen und Ansichten zusammengebracht hatte, war das Material, aus dem ein andrer Richter, wo es nämlich mehr als einen gab — die Relation mit motivirten Urtheil fertigte. Auf sie hin stimmte das Collegium über Schuld - und Strafmaß mit Majorität ab, ohne einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten, Zeugen und Thatbestand empfangen, selbst ohne den Inhalt der Acten anders als durch die Anschauung eines Referenten, resp, noch eines Korreferenten kennen gelernt zu haben. Dagegen suchte man wieder dem Angeklagten zu helfen: Einmal durch Zu¬ ordnung eines Vertheidigers, den er in schweren Fällen annehmen mußte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/122>, abgerufen am 22.07.2024.