Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eine Commission unter Dankelmann, später unter Kamptz, theils der Staats¬
rath mit dieser Frage beschäftigt. Aber das Resultat des ganzen Aufwandes
von Zeit, Mühe und Kosten war über Erwarten gering. Von acht oder neun
Entwürfen, welche nach und nach zu Tage kamen, erfuhr der von 1843 die
entschiedenste Mißbilligung aller Landstände und aller criminalistischen Schrift¬
steller -- es waren 64 der bedeutendsten Autoritäten -- die sich darüber äu¬
ßerten; der von 1847 konnte wenigstens die Majorität des vereinigten Land¬
tags nicht für sich gewinnen, und was von allen diesen Entwürfen zusammen¬
genommen in die endliche Neubildung des preußischen Strafrechts übergegangen
oder selbst nur als Borarbeit dafür benutzt worden ist, dürfte einen sehr be¬
scheidenen Raum einnehmen.

Wer gewohnt ist, das Strafgesetzbuch von 1851 anzuwenden oder an¬
gewendet zu sehen und zufällig den 20. Titel Theil 2 des A. L. R. in die
Hände bekommt. wird sich in der That eines wunderlichen Gefühls nicht er¬
wehren können, denkt er daran, daß diese beiden Gesetzbücher sich erst vor sieben
Jahren und zwar unmittelbar, ohne weitere Vermittlung in ihrer Wirksamkeit
abgelöst haben. Es ist nicht blos der Fortschritt in der wissenschaftlichen Er¬
kenntniß vom Wesen der Straft und von der Natur des Verbrechens, nicht
blos das Verschwinden oder die Milderung einzelner Strafmittel, welche mit
der steigenden Humanität und Gesittung so natürlich verbunden ist. was die
beiden Gesetzbücher unterscheidet. Sie scheinen nicht blos für andere Zeiten,
sondern für andere Menschen, sür andere Zustände gemacht zu sein, zwischen
denen es keine Brücke gibt. Dem casuistischen, unsystematischen Wesen des
landrechtlichen Strafrechts, in dem der Gesetzgeber sich in echt patriarchalischer
Weise zu seinen Unterthanen verhält, hierund da an ihr Ehrgefühl appellirt,
oder ihnen gute Lehren über die zweckmäßige Behandlung Erhängter, über
das rücksichtsvolle Benehmen gegen Schwangere einschärft; wo noch in sehr
vielen Fällen nach dem Stande und der Bildung des Verletzten oder des zu
Bestrafenden gefragt wird, -- tritt aus der andern Seite das neue Straf¬
gesetzbuch gegenüber ganz sachgemäß, logisch, kalt, ohne jede Rücksicht und
jedes Erbarmen. Das landrechtiiche Strafrecht ruhte noch gänzlich auf der
Grundlage des gemeinen deutschen Strafrechts; man wird in ihm den Einfluß
der Carolina, der sächsischen Criminalisten des 17. Jahrhunderts und die
spätern Wirkungen der Kantschen Philosophie ohne Mühe herauserkennen.
Davon ist bei dem Strafgesetzbuch von 1851 kaum mehr die Rede. Seine
Wiege hat jenseits des Rheins gestanden und in dem engen, bisweilen wört¬
lichen Anschluß an den Ooäe x>6na1 prägen sich ebenso die Vorzüge wie die
Mängel aus, welche unsern westlichen Nachbarn eigen sind: von jenen die
praktische Klarheit des Ausdrucks, die bestehende Uebersichtlichkeit in Anword-
nung und Eintheilung, von diesen vor allem ein durchschneidender Formalis-


eine Commission unter Dankelmann, später unter Kamptz, theils der Staats¬
rath mit dieser Frage beschäftigt. Aber das Resultat des ganzen Aufwandes
von Zeit, Mühe und Kosten war über Erwarten gering. Von acht oder neun
Entwürfen, welche nach und nach zu Tage kamen, erfuhr der von 1843 die
entschiedenste Mißbilligung aller Landstände und aller criminalistischen Schrift¬
steller — es waren 64 der bedeutendsten Autoritäten — die sich darüber äu¬
ßerten; der von 1847 konnte wenigstens die Majorität des vereinigten Land¬
tags nicht für sich gewinnen, und was von allen diesen Entwürfen zusammen¬
genommen in die endliche Neubildung des preußischen Strafrechts übergegangen
oder selbst nur als Borarbeit dafür benutzt worden ist, dürfte einen sehr be¬
scheidenen Raum einnehmen.

Wer gewohnt ist, das Strafgesetzbuch von 1851 anzuwenden oder an¬
gewendet zu sehen und zufällig den 20. Titel Theil 2 des A. L. R. in die
Hände bekommt. wird sich in der That eines wunderlichen Gefühls nicht er¬
wehren können, denkt er daran, daß diese beiden Gesetzbücher sich erst vor sieben
Jahren und zwar unmittelbar, ohne weitere Vermittlung in ihrer Wirksamkeit
abgelöst haben. Es ist nicht blos der Fortschritt in der wissenschaftlichen Er¬
kenntniß vom Wesen der Straft und von der Natur des Verbrechens, nicht
blos das Verschwinden oder die Milderung einzelner Strafmittel, welche mit
der steigenden Humanität und Gesittung so natürlich verbunden ist. was die
beiden Gesetzbücher unterscheidet. Sie scheinen nicht blos für andere Zeiten,
sondern für andere Menschen, sür andere Zustände gemacht zu sein, zwischen
denen es keine Brücke gibt. Dem casuistischen, unsystematischen Wesen des
landrechtlichen Strafrechts, in dem der Gesetzgeber sich in echt patriarchalischer
Weise zu seinen Unterthanen verhält, hierund da an ihr Ehrgefühl appellirt,
oder ihnen gute Lehren über die zweckmäßige Behandlung Erhängter, über
das rücksichtsvolle Benehmen gegen Schwangere einschärft; wo noch in sehr
vielen Fällen nach dem Stande und der Bildung des Verletzten oder des zu
Bestrafenden gefragt wird, — tritt aus der andern Seite das neue Straf¬
gesetzbuch gegenüber ganz sachgemäß, logisch, kalt, ohne jede Rücksicht und
jedes Erbarmen. Das landrechtiiche Strafrecht ruhte noch gänzlich auf der
Grundlage des gemeinen deutschen Strafrechts; man wird in ihm den Einfluß
der Carolina, der sächsischen Criminalisten des 17. Jahrhunderts und die
spätern Wirkungen der Kantschen Philosophie ohne Mühe herauserkennen.
Davon ist bei dem Strafgesetzbuch von 1851 kaum mehr die Rede. Seine
Wiege hat jenseits des Rheins gestanden und in dem engen, bisweilen wört¬
lichen Anschluß an den Ooäe x>6na1 prägen sich ebenso die Vorzüge wie die
Mängel aus, welche unsern westlichen Nachbarn eigen sind: von jenen die
praktische Klarheit des Ausdrucks, die bestehende Uebersichtlichkeit in Anword-
nung und Eintheilung, von diesen vor allem ein durchschneidender Formalis-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0116" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105927"/>
          <p xml:id="ID_283" prev="#ID_282"> eine Commission unter Dankelmann, später unter Kamptz, theils der Staats¬<lb/>
rath mit dieser Frage beschäftigt. Aber das Resultat des ganzen Aufwandes<lb/>
von Zeit, Mühe und Kosten war über Erwarten gering. Von acht oder neun<lb/>
Entwürfen, welche nach und nach zu Tage kamen, erfuhr der von 1843 die<lb/>
entschiedenste Mißbilligung aller Landstände und aller criminalistischen Schrift¬<lb/>
steller &#x2014; es waren 64 der bedeutendsten Autoritäten &#x2014; die sich darüber äu¬<lb/>
ßerten; der von 1847 konnte wenigstens die Majorität des vereinigten Land¬<lb/>
tags nicht für sich gewinnen, und was von allen diesen Entwürfen zusammen¬<lb/>
genommen in die endliche Neubildung des preußischen Strafrechts übergegangen<lb/>
oder selbst nur als Borarbeit dafür benutzt worden ist, dürfte einen sehr be¬<lb/>
scheidenen Raum einnehmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_284" next="#ID_285"> Wer gewohnt ist, das Strafgesetzbuch von 1851 anzuwenden oder an¬<lb/>
gewendet zu sehen und zufällig den 20. Titel Theil 2 des A. L. R. in die<lb/>
Hände bekommt. wird sich in der That eines wunderlichen Gefühls nicht er¬<lb/>
wehren können, denkt er daran, daß diese beiden Gesetzbücher sich erst vor sieben<lb/>
Jahren und zwar unmittelbar, ohne weitere Vermittlung in ihrer Wirksamkeit<lb/>
abgelöst haben. Es ist nicht blos der Fortschritt in der wissenschaftlichen Er¬<lb/>
kenntniß vom Wesen der Straft und von der Natur des Verbrechens, nicht<lb/>
blos das Verschwinden oder die Milderung einzelner Strafmittel, welche mit<lb/>
der steigenden Humanität und Gesittung so natürlich verbunden ist. was die<lb/>
beiden Gesetzbücher unterscheidet. Sie scheinen nicht blos für andere Zeiten,<lb/>
sondern für andere Menschen, sür andere Zustände gemacht zu sein, zwischen<lb/>
denen es keine Brücke gibt. Dem casuistischen, unsystematischen Wesen des<lb/>
landrechtlichen Strafrechts, in dem der Gesetzgeber sich in echt patriarchalischer<lb/>
Weise zu seinen Unterthanen verhält, hierund da an ihr Ehrgefühl appellirt,<lb/>
oder ihnen gute Lehren über die zweckmäßige Behandlung Erhängter, über<lb/>
das rücksichtsvolle Benehmen gegen Schwangere einschärft; wo noch in sehr<lb/>
vielen Fällen nach dem Stande und der Bildung des Verletzten oder des zu<lb/>
Bestrafenden gefragt wird, &#x2014; tritt aus der andern Seite das neue Straf¬<lb/>
gesetzbuch gegenüber ganz sachgemäß, logisch, kalt, ohne jede Rücksicht und<lb/>
jedes Erbarmen. Das landrechtiiche Strafrecht ruhte noch gänzlich auf der<lb/>
Grundlage des gemeinen deutschen Strafrechts; man wird in ihm den Einfluß<lb/>
der Carolina, der sächsischen Criminalisten des 17. Jahrhunderts und die<lb/>
spätern Wirkungen der Kantschen Philosophie ohne Mühe herauserkennen.<lb/>
Davon ist bei dem Strafgesetzbuch von 1851 kaum mehr die Rede. Seine<lb/>
Wiege hat jenseits des Rheins gestanden und in dem engen, bisweilen wört¬<lb/>
lichen Anschluß an den Ooäe x&gt;6na1 prägen sich ebenso die Vorzüge wie die<lb/>
Mängel aus, welche unsern westlichen Nachbarn eigen sind: von jenen die<lb/>
praktische Klarheit des Ausdrucks, die bestehende Uebersichtlichkeit in Anword-<lb/>
nung und Eintheilung, von diesen vor allem ein durchschneidender Formalis-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0116] eine Commission unter Dankelmann, später unter Kamptz, theils der Staats¬ rath mit dieser Frage beschäftigt. Aber das Resultat des ganzen Aufwandes von Zeit, Mühe und Kosten war über Erwarten gering. Von acht oder neun Entwürfen, welche nach und nach zu Tage kamen, erfuhr der von 1843 die entschiedenste Mißbilligung aller Landstände und aller criminalistischen Schrift¬ steller — es waren 64 der bedeutendsten Autoritäten — die sich darüber äu¬ ßerten; der von 1847 konnte wenigstens die Majorität des vereinigten Land¬ tags nicht für sich gewinnen, und was von allen diesen Entwürfen zusammen¬ genommen in die endliche Neubildung des preußischen Strafrechts übergegangen oder selbst nur als Borarbeit dafür benutzt worden ist, dürfte einen sehr be¬ scheidenen Raum einnehmen. Wer gewohnt ist, das Strafgesetzbuch von 1851 anzuwenden oder an¬ gewendet zu sehen und zufällig den 20. Titel Theil 2 des A. L. R. in die Hände bekommt. wird sich in der That eines wunderlichen Gefühls nicht er¬ wehren können, denkt er daran, daß diese beiden Gesetzbücher sich erst vor sieben Jahren und zwar unmittelbar, ohne weitere Vermittlung in ihrer Wirksamkeit abgelöst haben. Es ist nicht blos der Fortschritt in der wissenschaftlichen Er¬ kenntniß vom Wesen der Straft und von der Natur des Verbrechens, nicht blos das Verschwinden oder die Milderung einzelner Strafmittel, welche mit der steigenden Humanität und Gesittung so natürlich verbunden ist. was die beiden Gesetzbücher unterscheidet. Sie scheinen nicht blos für andere Zeiten, sondern für andere Menschen, sür andere Zustände gemacht zu sein, zwischen denen es keine Brücke gibt. Dem casuistischen, unsystematischen Wesen des landrechtlichen Strafrechts, in dem der Gesetzgeber sich in echt patriarchalischer Weise zu seinen Unterthanen verhält, hierund da an ihr Ehrgefühl appellirt, oder ihnen gute Lehren über die zweckmäßige Behandlung Erhängter, über das rücksichtsvolle Benehmen gegen Schwangere einschärft; wo noch in sehr vielen Fällen nach dem Stande und der Bildung des Verletzten oder des zu Bestrafenden gefragt wird, — tritt aus der andern Seite das neue Straf¬ gesetzbuch gegenüber ganz sachgemäß, logisch, kalt, ohne jede Rücksicht und jedes Erbarmen. Das landrechtiiche Strafrecht ruhte noch gänzlich auf der Grundlage des gemeinen deutschen Strafrechts; man wird in ihm den Einfluß der Carolina, der sächsischen Criminalisten des 17. Jahrhunderts und die spätern Wirkungen der Kantschen Philosophie ohne Mühe herauserkennen. Davon ist bei dem Strafgesetzbuch von 1851 kaum mehr die Rede. Seine Wiege hat jenseits des Rheins gestanden und in dem engen, bisweilen wört¬ lichen Anschluß an den Ooäe x>6na1 prägen sich ebenso die Vorzüge wie die Mängel aus, welche unsern westlichen Nachbarn eigen sind: von jenen die praktische Klarheit des Ausdrucks, die bestehende Uebersichtlichkeit in Anword- nung und Eintheilung, von diesen vor allem ein durchschneidender Formalis-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/116
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/116>, abgerufen am 22.07.2024.