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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Zuerst lernte man die Poesie der romanischen Völker kennen und würdigen,
dann machte man bei dem Durchstöbern der alten Mythologie die überraschende
Entdeckung des deutschen Lebens. Diese Entdeckung hat die Wissenschaft und
Kunst aufs erfreulichste bereichert, die letztere freilich nur auf den Gebieten
der Lyrik und Genremalerei. Der Hellenismus wurde mehr und mehr der
Wissenschaft überlassen, und sie hat ihn zu einem stattlichen Gebäude aus¬
gebildet, in dessen labyrinthischen Gängen sich kaum ein einzelner Gelehrter
mehr zurecht finden kann.

Allein Spuren von der alten nach Griechenland gerichteten Sehnsucht fan¬
den sich noch immer vor. Wir haben die populären Aufsätze aus dem
Alterthum von Lehrs schon mehrfach erwähnt. Wir machen hier auf das
geistreiche Werk, dessen eigentlich gelehrter Inhalt uns nichts angeht, noch ein¬
mal aufmerksam, weil wir aus ihm vielleicht am augenscheinlichsten erkenne",
was Goethe, Schiller und ihren dichterischen Zeitgenossen bei dem griechischen
Ideal eigentlich vorschwebte. Mit unvollkommner Kenntniß, aber einer glück¬
lichen Divination ausgestattet, vertieften sie sich in einzelne Schöpfungen des
Alterthums und lauschten ihnen Geheimnisse ab, die manchem wirklichen Ge¬
lehrten entgingen. Hier tritt nun ein Gelehrter im strengsten Sinn des Worts
auf, der aus einer unermeßlichen, ihm selbst freilich noch immer nicht genügen¬
den Fülle des Wissens schöpft. Was wir aber am meisten bei ihm bewun¬
dern ist nicht seine Gelehrsamkeit, sondern eben jene Kraft der Divination, die
unsere classischen Dichter auszeichnet. Indem er sich mit einer Andacht, die
man wol fromm nennen darf, in den griechischen VorstellungsKeis vertieft,
findet in seinem Innern derselbe Proceß statt, den er so schön bei den Alten
nachweist! die Begriffe verwandeln sich ihm in Anschauungen, die Anschauungen
in plastisch ausgeführte Gestalten, man sieht, wie in diesem Proceß seine ganze
Seele thätig ist, und was bei einem wissenschaftlichen Buch wol sehr selten
der Fall sein mag, man kann seine Schrift nicht ohne Rührung aus der
Hand legen.

Bei dieser nervösen Empfänglichkeit, in welcher das griechische Leben mit
leidenschaftlicher Erregung nachzittert, kann man die Abneigung gegen eine
andere Schule der Philologie, die im Alterthum hauptsächlich das geschicht¬
liche Leben aufsucht und vom historischen und philosophischen Standpunkt den
Untergang jener wundervollen Zauberwelt begreift und rechtfertigt, kann man
auch die Bitterkeit, mit der er sich zuweilen über sie ausspricht, wol erklären.
Es geht dem geistvollen Philologen wie seinen Vorgängern, den Dichtern:
ihrer vorwiegend ästhetischen Empfindungsweise ist das geschichtliche Leben nicht
blos fremd, es ist ihnen, ohne daß sie sich völlig darüber klar'werden, ver¬
haßt. Oefters werden wir an jenes Phänomen erinnert, welches man zu
Anfang dieses Jahrhunderts als schöne Seele bezeichnet, und wie wenig diese


Zuerst lernte man die Poesie der romanischen Völker kennen und würdigen,
dann machte man bei dem Durchstöbern der alten Mythologie die überraschende
Entdeckung des deutschen Lebens. Diese Entdeckung hat die Wissenschaft und
Kunst aufs erfreulichste bereichert, die letztere freilich nur auf den Gebieten
der Lyrik und Genremalerei. Der Hellenismus wurde mehr und mehr der
Wissenschaft überlassen, und sie hat ihn zu einem stattlichen Gebäude aus¬
gebildet, in dessen labyrinthischen Gängen sich kaum ein einzelner Gelehrter
mehr zurecht finden kann.

Allein Spuren von der alten nach Griechenland gerichteten Sehnsucht fan¬
den sich noch immer vor. Wir haben die populären Aufsätze aus dem
Alterthum von Lehrs schon mehrfach erwähnt. Wir machen hier auf das
geistreiche Werk, dessen eigentlich gelehrter Inhalt uns nichts angeht, noch ein¬
mal aufmerksam, weil wir aus ihm vielleicht am augenscheinlichsten erkenne»,
was Goethe, Schiller und ihren dichterischen Zeitgenossen bei dem griechischen
Ideal eigentlich vorschwebte. Mit unvollkommner Kenntniß, aber einer glück¬
lichen Divination ausgestattet, vertieften sie sich in einzelne Schöpfungen des
Alterthums und lauschten ihnen Geheimnisse ab, die manchem wirklichen Ge¬
lehrten entgingen. Hier tritt nun ein Gelehrter im strengsten Sinn des Worts
auf, der aus einer unermeßlichen, ihm selbst freilich noch immer nicht genügen¬
den Fülle des Wissens schöpft. Was wir aber am meisten bei ihm bewun¬
dern ist nicht seine Gelehrsamkeit, sondern eben jene Kraft der Divination, die
unsere classischen Dichter auszeichnet. Indem er sich mit einer Andacht, die
man wol fromm nennen darf, in den griechischen VorstellungsKeis vertieft,
findet in seinem Innern derselbe Proceß statt, den er so schön bei den Alten
nachweist! die Begriffe verwandeln sich ihm in Anschauungen, die Anschauungen
in plastisch ausgeführte Gestalten, man sieht, wie in diesem Proceß seine ganze
Seele thätig ist, und was bei einem wissenschaftlichen Buch wol sehr selten
der Fall sein mag, man kann seine Schrift nicht ohne Rührung aus der
Hand legen.

Bei dieser nervösen Empfänglichkeit, in welcher das griechische Leben mit
leidenschaftlicher Erregung nachzittert, kann man die Abneigung gegen eine
andere Schule der Philologie, die im Alterthum hauptsächlich das geschicht¬
liche Leben aufsucht und vom historischen und philosophischen Standpunkt den
Untergang jener wundervollen Zauberwelt begreift und rechtfertigt, kann man
auch die Bitterkeit, mit der er sich zuweilen über sie ausspricht, wol erklären.
Es geht dem geistvollen Philologen wie seinen Vorgängern, den Dichtern:
ihrer vorwiegend ästhetischen Empfindungsweise ist das geschichtliche Leben nicht
blos fremd, es ist ihnen, ohne daß sie sich völlig darüber klar'werden, ver¬
haßt. Oefters werden wir an jenes Phänomen erinnert, welches man zu
Anfang dieses Jahrhunderts als schöne Seele bezeichnet, und wie wenig diese


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/480>, abgerufen am 22.12.2024.