Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.wenigstens in der Kunst, deren Entwicklung am kräftigsten und vielseitigsten Das Verständniß der Kunst hat nicht minder große Fortschritte gemacht. wenigstens in der Kunst, deren Entwicklung am kräftigsten und vielseitigsten Das Verständniß der Kunst hat nicht minder große Fortschritte gemacht. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105751"/> <p xml:id="ID_1234" prev="#ID_1233"> wenigstens in der Kunst, deren Entwicklung am kräftigsten und vielseitigsten<lb/> gewesenist, in der Malerei, kommt uns vieles jetzt schon antediluvianisch vor,<lb/> was vor einem Menschenalter oder noch später Bewunderung gefunden hat.<lb/> Ein Bild, wie der Compromiß von de Biasre würde heute mindestens nicht<lb/> mehr als ein unbegreifliches technisches Wunderwerk angestaunt werden, wie<lb/> es 1843 in Deutschland fast überall geschah. Ein Bild wie Bendemanns<lb/> trauernde Juden, das 1832 einen Sturm des Enthusiasmus erregte, würde<lb/> heute zwar noch immer als ein sehr respectables Erstlingswerk anerkannt werdeu,<lb/> aber niemandem würde es einfallen, den Künstler für einen künftigen Michel<lb/> Angelo zu halten. Geht man vollends noch zehn und mehr Jahre zu¬<lb/> rück, in die Periode, wo man sich an Gerhard von Kügelgens Bildern erbaute,<lb/> wo die landschaftlichen Visionen von Friedrich.als tiefe Poesie galten, wo die<lb/> Concurreuzbilder der weimarische» Kunstfreunde mit Wichtigkeit behandelt wurden,<lb/> dann glaubt man kaum, daß seit der Zeit nur dreißig oder vierzig Jahre<lb/> verflossen sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_1235"> Das Verständniß der Kunst hat nicht minder große Fortschritte gemacht.<lb/> Jeder, der die betreffende Literatur des ersten und zweiten Jahrzehnts einiger¬<lb/> maßen kennt, weiß wie befangen, einseitig, principlos und dilettantisch der<lb/> damalige Kunstenthusiasmus war. Die gegenwärtige Kritik ist schon deshalb<lb/> vor Verirrungen und Parteilichkeiten sehr viel mehr gesichert, weil sie auf<lb/> weit vollständigere und umfassendere Anschauungen basirt ist — Dank den Chaus¬<lb/> seen und Eisenbahnen, die von ihren Gegnern als der größte Verderb aller<lb/> Romantik, Poesie und selbst aller ruhigen Bildung verschrien werden. In<lb/> Eckermanns Gesprächen behandelt Goethe einmal die Versetzung phidiassischer<lb/> Sculpturen nach London wie billig als ein epochemachendes Ereigniß auch<lb/> sür die gegenwärtige Kunst, und äußert, daß man vielversprechende junge<lb/> Bildhauer wol auf Staatskosten nach England senden könne, um dieses un¬<lb/> schätzbaren Anblicks theilhaft zu werden. Heutzutage reisen nicht nur so be¬<lb/> günstigte Künstler, sondern auch tausende von Kunstfreunden in sehr bescheide¬<lb/> nen Verhältnissen überall hin, wo bedeutende Kunstwerke zu sehen sind. Der<lb/> Verfasser des vorliegenden Buchs, der Universitätslehrer in Bonn ist (wie wir<lb/> aus Erfahrung versichern können, ist dies keine der vorzugsweise begünstigten<lb/> Lebensstellungen) kennt beinah die ganze europäische Kunst nach eigner Anschauung.<lb/> Wenn er einige Länder, wie die skandinavische und pyrenäische Halbinsel, nicht<lb/> selbst gesehn hat, so hat er diese Lücken seiner Anschauung durch den Besuch<lb/> der allgemeinen europäischen Kunstausstellung in Paris genügend ausgefüllt.<lb/> Eine Gesammtübersicht, wie sie dort geboten wurde, doppelt unschätzbar durch<lb/> die Möglichkeit der Vergleichung so vieler verschiedenen Richtungen und Knnst-<lb/> weisen, würde vor einem Menschcnnlter kaum von einem Enthusiasten geträumt<lb/> worden sein.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0474]
wenigstens in der Kunst, deren Entwicklung am kräftigsten und vielseitigsten
gewesenist, in der Malerei, kommt uns vieles jetzt schon antediluvianisch vor,
was vor einem Menschenalter oder noch später Bewunderung gefunden hat.
Ein Bild, wie der Compromiß von de Biasre würde heute mindestens nicht
mehr als ein unbegreifliches technisches Wunderwerk angestaunt werden, wie
es 1843 in Deutschland fast überall geschah. Ein Bild wie Bendemanns
trauernde Juden, das 1832 einen Sturm des Enthusiasmus erregte, würde
heute zwar noch immer als ein sehr respectables Erstlingswerk anerkannt werdeu,
aber niemandem würde es einfallen, den Künstler für einen künftigen Michel
Angelo zu halten. Geht man vollends noch zehn und mehr Jahre zu¬
rück, in die Periode, wo man sich an Gerhard von Kügelgens Bildern erbaute,
wo die landschaftlichen Visionen von Friedrich.als tiefe Poesie galten, wo die
Concurreuzbilder der weimarische» Kunstfreunde mit Wichtigkeit behandelt wurden,
dann glaubt man kaum, daß seit der Zeit nur dreißig oder vierzig Jahre
verflossen sind.
Das Verständniß der Kunst hat nicht minder große Fortschritte gemacht.
Jeder, der die betreffende Literatur des ersten und zweiten Jahrzehnts einiger¬
maßen kennt, weiß wie befangen, einseitig, principlos und dilettantisch der
damalige Kunstenthusiasmus war. Die gegenwärtige Kritik ist schon deshalb
vor Verirrungen und Parteilichkeiten sehr viel mehr gesichert, weil sie auf
weit vollständigere und umfassendere Anschauungen basirt ist — Dank den Chaus¬
seen und Eisenbahnen, die von ihren Gegnern als der größte Verderb aller
Romantik, Poesie und selbst aller ruhigen Bildung verschrien werden. In
Eckermanns Gesprächen behandelt Goethe einmal die Versetzung phidiassischer
Sculpturen nach London wie billig als ein epochemachendes Ereigniß auch
sür die gegenwärtige Kunst, und äußert, daß man vielversprechende junge
Bildhauer wol auf Staatskosten nach England senden könne, um dieses un¬
schätzbaren Anblicks theilhaft zu werden. Heutzutage reisen nicht nur so be¬
günstigte Künstler, sondern auch tausende von Kunstfreunden in sehr bescheide¬
nen Verhältnissen überall hin, wo bedeutende Kunstwerke zu sehen sind. Der
Verfasser des vorliegenden Buchs, der Universitätslehrer in Bonn ist (wie wir
aus Erfahrung versichern können, ist dies keine der vorzugsweise begünstigten
Lebensstellungen) kennt beinah die ganze europäische Kunst nach eigner Anschauung.
Wenn er einige Länder, wie die skandinavische und pyrenäische Halbinsel, nicht
selbst gesehn hat, so hat er diese Lücken seiner Anschauung durch den Besuch
der allgemeinen europäischen Kunstausstellung in Paris genügend ausgefüllt.
Eine Gesammtübersicht, wie sie dort geboten wurde, doppelt unschätzbar durch
die Möglichkeit der Vergleichung so vieler verschiedenen Richtungen und Knnst-
weisen, würde vor einem Menschcnnlter kaum von einem Enthusiasten geträumt
worden sein.
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