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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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den Wahlen etwas hitziger zu. In Neuenburg und Se. Gallen waren die
bewegenden Ursachen von cantonaler Natur. In Neuenburg nahmen die feind¬
lichen Brüder der republikanischen Partei, Gouverncmental-Notabeln und s. g.
Independenten. den durch die Jnsurrection vom 3. September 1856 unter¬
brochenen Kampf wieder auf, der seine erste Quelle in persönlichen
Rivalitäten, seine zweite und hauptsächlichste in den gegnerischen Eisenbahn-
projecten ^ni-g, wäustriel (Brege) und I^ÄNvv-suisse (Traversthal) hatte.
Die Regierungspartei siegte mit überraschendem Mehr über die vereinigten
Independenten und ehemaligen Royalisten. In Se. Gallen galt es, die seit
dem letzten Mai beinahe gleich starken Parteien des Liberalismus und des
Ultramontanismus zu wählen. Auf beiden Seiten wurden alle irgend erlaubten
Anstrengungen gemacht und aus beiden Lagern so zu sagen Stein und Bein
auf den Wahlplatz poussirt. Bei einer Gesammtwählerzahl von 36,000 siegten
die Liberalen mir 2--3000 Stimmen über die Gegner. Die weitere Ent¬
wicklung der Dinge in diesen beiden Cantonen wird der schweizerischen Presse
noch viel zu sprechen geben, die in Se. "Äallen hat auch für ein größeres
Puvlicum Interesse, weil die Bestrebungen des dortigen Ultramontnnismus
einen Ring in der Kette der großen römischen Aggressivbewegungen unserer
Zeit bilden. Im Canton Waadt klang die Oronbahnfrage nach. Doch war
die dortige Regierungspartei ihres Sieges so viel wie gewiß, zumal sich ihr
wegen der Eisenbahninteressen einige der hervorragendsten conservativen Führer
zugesellt hatten, wofür sie dann auch dankbar auf die Liste der Liberalen ge¬
nommen wurden. Der Wahlkampf dieses Cantons bot deshalb nur wegen
des Nebenumstandes Interesse, daß sich die Mehrheit der Regierung in den
Kopf gesetzt hatte, den Bundcspräsidcnten Fornerod zu stürzen, auf dessen Sitz
ein oder zwei Mitglieder jener Regierung speculirten. Fornerod war zwar
während der Eisenbahndebatten immer ganz einig mit der Regierung von
Waadt und den waadtländischen Repräsentanten gegangen und hatte im
Bundesrath wie im Nationalrath und Ständerath sein Möglichstes gethan,
um die Interessen des Waadt zum Sieg zu bringen. Als aber nichts desto
weniger der Entscheid sür diesen Canton ungünstig ausgefallen war, lag ihm
als Mitglied des Bundesraths die Pflicht ob, die Beschlüsse auszuführen.
Die Regierung setzte der Execution einen ganz sinnlos verfassungswidrigen
Widerstand entgegen; da trat Fornerod mit einem offnen Brief vor seine can-
tonalen Landsleute, um seine Stellung wie die des Canton zu erklären. Die¬
sen ganz demokratischen Schritt, der auf die übrige Schweiz den besten
Eindruck machte, qualisicirten seine Gegner, oder besser Neider, als Verrath
am Heimathscanton. Die Wähler von Lausanne, Vevay und Aigle lie¬
ßen sich jedoch nicht irremachen und wählten Fornerod mit sehr ansehn¬
lichem Mehr.


Grenzboten I. 1353. 52

den Wahlen etwas hitziger zu. In Neuenburg und Se. Gallen waren die
bewegenden Ursachen von cantonaler Natur. In Neuenburg nahmen die feind¬
lichen Brüder der republikanischen Partei, Gouverncmental-Notabeln und s. g.
Independenten. den durch die Jnsurrection vom 3. September 1856 unter¬
brochenen Kampf wieder auf, der seine erste Quelle in persönlichen
Rivalitäten, seine zweite und hauptsächlichste in den gegnerischen Eisenbahn-
projecten ^ni-g, wäustriel (Brege) und I^ÄNvv-suisse (Traversthal) hatte.
Die Regierungspartei siegte mit überraschendem Mehr über die vereinigten
Independenten und ehemaligen Royalisten. In Se. Gallen galt es, die seit
dem letzten Mai beinahe gleich starken Parteien des Liberalismus und des
Ultramontanismus zu wählen. Auf beiden Seiten wurden alle irgend erlaubten
Anstrengungen gemacht und aus beiden Lagern so zu sagen Stein und Bein
auf den Wahlplatz poussirt. Bei einer Gesammtwählerzahl von 36,000 siegten
die Liberalen mir 2—3000 Stimmen über die Gegner. Die weitere Ent¬
wicklung der Dinge in diesen beiden Cantonen wird der schweizerischen Presse
noch viel zu sprechen geben, die in Se. «Äallen hat auch für ein größeres
Puvlicum Interesse, weil die Bestrebungen des dortigen Ultramontnnismus
einen Ring in der Kette der großen römischen Aggressivbewegungen unserer
Zeit bilden. Im Canton Waadt klang die Oronbahnfrage nach. Doch war
die dortige Regierungspartei ihres Sieges so viel wie gewiß, zumal sich ihr
wegen der Eisenbahninteressen einige der hervorragendsten conservativen Führer
zugesellt hatten, wofür sie dann auch dankbar auf die Liste der Liberalen ge¬
nommen wurden. Der Wahlkampf dieses Cantons bot deshalb nur wegen
des Nebenumstandes Interesse, daß sich die Mehrheit der Regierung in den
Kopf gesetzt hatte, den Bundcspräsidcnten Fornerod zu stürzen, auf dessen Sitz
ein oder zwei Mitglieder jener Regierung speculirten. Fornerod war zwar
während der Eisenbahndebatten immer ganz einig mit der Regierung von
Waadt und den waadtländischen Repräsentanten gegangen und hatte im
Bundesrath wie im Nationalrath und Ständerath sein Möglichstes gethan,
um die Interessen des Waadt zum Sieg zu bringen. Als aber nichts desto
weniger der Entscheid sür diesen Canton ungünstig ausgefallen war, lag ihm
als Mitglied des Bundesraths die Pflicht ob, die Beschlüsse auszuführen.
Die Regierung setzte der Execution einen ganz sinnlos verfassungswidrigen
Widerstand entgegen; da trat Fornerod mit einem offnen Brief vor seine can-
tonalen Landsleute, um seine Stellung wie die des Canton zu erklären. Die¬
sen ganz demokratischen Schritt, der auf die übrige Schweiz den besten
Eindruck machte, qualisicirten seine Gegner, oder besser Neider, als Verrath
am Heimathscanton. Die Wähler von Lausanne, Vevay und Aigle lie¬
ßen sich jedoch nicht irremachen und wählten Fornerod mit sehr ansehn¬
lichem Mehr.


Grenzboten I. 1353. 52
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[0417] den Wahlen etwas hitziger zu. In Neuenburg und Se. Gallen waren die bewegenden Ursachen von cantonaler Natur. In Neuenburg nahmen die feind¬ lichen Brüder der republikanischen Partei, Gouverncmental-Notabeln und s. g. Independenten. den durch die Jnsurrection vom 3. September 1856 unter¬ brochenen Kampf wieder auf, der seine erste Quelle in persönlichen Rivalitäten, seine zweite und hauptsächlichste in den gegnerischen Eisenbahn- projecten ^ni-g, wäustriel (Brege) und I^ÄNvv-suisse (Traversthal) hatte. Die Regierungspartei siegte mit überraschendem Mehr über die vereinigten Independenten und ehemaligen Royalisten. In Se. Gallen galt es, die seit dem letzten Mai beinahe gleich starken Parteien des Liberalismus und des Ultramontanismus zu wählen. Auf beiden Seiten wurden alle irgend erlaubten Anstrengungen gemacht und aus beiden Lagern so zu sagen Stein und Bein auf den Wahlplatz poussirt. Bei einer Gesammtwählerzahl von 36,000 siegten die Liberalen mir 2—3000 Stimmen über die Gegner. Die weitere Ent¬ wicklung der Dinge in diesen beiden Cantonen wird der schweizerischen Presse noch viel zu sprechen geben, die in Se. «Äallen hat auch für ein größeres Puvlicum Interesse, weil die Bestrebungen des dortigen Ultramontnnismus einen Ring in der Kette der großen römischen Aggressivbewegungen unserer Zeit bilden. Im Canton Waadt klang die Oronbahnfrage nach. Doch war die dortige Regierungspartei ihres Sieges so viel wie gewiß, zumal sich ihr wegen der Eisenbahninteressen einige der hervorragendsten conservativen Führer zugesellt hatten, wofür sie dann auch dankbar auf die Liste der Liberalen ge¬ nommen wurden. Der Wahlkampf dieses Cantons bot deshalb nur wegen des Nebenumstandes Interesse, daß sich die Mehrheit der Regierung in den Kopf gesetzt hatte, den Bundcspräsidcnten Fornerod zu stürzen, auf dessen Sitz ein oder zwei Mitglieder jener Regierung speculirten. Fornerod war zwar während der Eisenbahndebatten immer ganz einig mit der Regierung von Waadt und den waadtländischen Repräsentanten gegangen und hatte im Bundesrath wie im Nationalrath und Ständerath sein Möglichstes gethan, um die Interessen des Waadt zum Sieg zu bringen. Als aber nichts desto weniger der Entscheid sür diesen Canton ungünstig ausgefallen war, lag ihm als Mitglied des Bundesraths die Pflicht ob, die Beschlüsse auszuführen. Die Regierung setzte der Execution einen ganz sinnlos verfassungswidrigen Widerstand entgegen; da trat Fornerod mit einem offnen Brief vor seine can- tonalen Landsleute, um seine Stellung wie die des Canton zu erklären. Die¬ sen ganz demokratischen Schritt, der auf die übrige Schweiz den besten Eindruck machte, qualisicirten seine Gegner, oder besser Neider, als Verrath am Heimathscanton. Die Wähler von Lausanne, Vevay und Aigle lie¬ ßen sich jedoch nicht irremachen und wählten Fornerod mit sehr ansehn¬ lichem Mehr. Grenzboten I. 1353. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/417>, abgerufen am 22.12.2024.