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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Wem das Verdienst des Entwurfs zum Befestigungssystem der west¬
lichen preußischen Landesfronte zukommt, dürfte sehr schwer zu'ermitteln sein.
In der Zeit, wo darüber endgiltige Feststellungen gemacht wurden, hatten
Gneisenau, Boyen und andere bedeutende Ccipacitätcn oberste militärische
Stellungen inne; das Ingenieurwesen lag in den Händen des Generals von
Rauch, und Stimmen wie die von Grolmann und Clausewitz waren wol
nicht ohne Einfluß und wurden gehört und beachtet. Am nächsten mochte
man der Wahrheit mit der Annahme kommen, daß die Entscheidung über
die wichtige Frage Sache vielfacher Berathungen war, und man dabei in
einem hohen Maße überlegt, gewissenhaft und mit vollster Rechnungtragung
aller bedingenden und Rücksicht verdienenden Umstände zu Werke gegangen
ist. Das Eine stand im Voraus fest: daß der Rheinstrom im Sinne einer
defensiven Frvntlmie zu fassen und zugleich für Angriffszwecke als mächtige
Basis einzurichten sei. Er bot sich den preußischen Entwürfen in seiner
ganzen Ausdehnung von Mainz bis zur niederländischen Grenze dar, aber
mit dein Bedingniß, daß südwärts von Koblenz nur eines seiner Ufer dem
Staate direct angehört und mithin auf eine beide Stromseiten in ihr Bereich
ziehende Festungsanlage hier verzichtet werden mußte. Westwärts vom Rheine
als vorgeschobene Punkte fanden sich nur die Festungen Saarlouis und Jülich
vor; am Strome selber war Wesel als ein Platz anzusehen, indeß in einem
für diesen Zweck ziemlich desolaten Zustand. Köln hatte Napoleon im Jahre
1811 zur Vertheidigung einrichten wollen und es fand sich später ein von
ihm einem seiner Secretäre in die Feder dictirtcs Memoire darüber vor, aber
die Sache war nicht zur Ausführung gekommen; die Werke von Koblenz
endlich waren schon während der Kriege der französischen Republik gesprengt
und seitdem nicht wieder hergestellt worden. Rückwärts dem Rhein war von
der Geographie des Landes kein näherer Halt geboten als die Weser;
dieselbe siel indeß nur innerhalb einer sehr kurzen Strecke auf preußisches
Gebiet und hier fand sich Minden mehr als Rest einer alten Festung, wie
als ein wohlerhaltencr Platz vor.

Wenn sonach die sich bietenden Elemente, an welche man anknüpfen und
auf welche man weiter gründen konnte, nur gering waren, hatte man doch
andererseits, aus Rücksichten einer weisen Oekonomie, sie wohl wahrzunehmen
und zu benutzen. Die Widerstaudsmittel jenseits des Rheins im Westen zu
vermehren, schien ungerathen, indem einem so starken und überlegenen Gegner
wie Frankreich gegenüber eine weit vorgeschobene Defensive immerhin ihr Mi߬
liches hat, und man in einer derartigen Situation nur unter besonders gün¬
stigen Umständen einen befriedigenden Erfolg erwarten darf. Aber man be¬
hielt Jülich und Saarlouis bei; zunächst, wie es scheint, nur provisorisch, um
nicht, bevor die Befestigungen der Rheinlinie beendet wären, seine Fronte


Wem das Verdienst des Entwurfs zum Befestigungssystem der west¬
lichen preußischen Landesfronte zukommt, dürfte sehr schwer zu'ermitteln sein.
In der Zeit, wo darüber endgiltige Feststellungen gemacht wurden, hatten
Gneisenau, Boyen und andere bedeutende Ccipacitätcn oberste militärische
Stellungen inne; das Ingenieurwesen lag in den Händen des Generals von
Rauch, und Stimmen wie die von Grolmann und Clausewitz waren wol
nicht ohne Einfluß und wurden gehört und beachtet. Am nächsten mochte
man der Wahrheit mit der Annahme kommen, daß die Entscheidung über
die wichtige Frage Sache vielfacher Berathungen war, und man dabei in
einem hohen Maße überlegt, gewissenhaft und mit vollster Rechnungtragung
aller bedingenden und Rücksicht verdienenden Umstände zu Werke gegangen
ist. Das Eine stand im Voraus fest: daß der Rheinstrom im Sinne einer
defensiven Frvntlmie zu fassen und zugleich für Angriffszwecke als mächtige
Basis einzurichten sei. Er bot sich den preußischen Entwürfen in seiner
ganzen Ausdehnung von Mainz bis zur niederländischen Grenze dar, aber
mit dein Bedingniß, daß südwärts von Koblenz nur eines seiner Ufer dem
Staate direct angehört und mithin auf eine beide Stromseiten in ihr Bereich
ziehende Festungsanlage hier verzichtet werden mußte. Westwärts vom Rheine
als vorgeschobene Punkte fanden sich nur die Festungen Saarlouis und Jülich
vor; am Strome selber war Wesel als ein Platz anzusehen, indeß in einem
für diesen Zweck ziemlich desolaten Zustand. Köln hatte Napoleon im Jahre
1811 zur Vertheidigung einrichten wollen und es fand sich später ein von
ihm einem seiner Secretäre in die Feder dictirtcs Memoire darüber vor, aber
die Sache war nicht zur Ausführung gekommen; die Werke von Koblenz
endlich waren schon während der Kriege der französischen Republik gesprengt
und seitdem nicht wieder hergestellt worden. Rückwärts dem Rhein war von
der Geographie des Landes kein näherer Halt geboten als die Weser;
dieselbe siel indeß nur innerhalb einer sehr kurzen Strecke auf preußisches
Gebiet und hier fand sich Minden mehr als Rest einer alten Festung, wie
als ein wohlerhaltencr Platz vor.

Wenn sonach die sich bietenden Elemente, an welche man anknüpfen und
auf welche man weiter gründen konnte, nur gering waren, hatte man doch
andererseits, aus Rücksichten einer weisen Oekonomie, sie wohl wahrzunehmen
und zu benutzen. Die Widerstaudsmittel jenseits des Rheins im Westen zu
vermehren, schien ungerathen, indem einem so starken und überlegenen Gegner
wie Frankreich gegenüber eine weit vorgeschobene Defensive immerhin ihr Mi߬
liches hat, und man in einer derartigen Situation nur unter besonders gün¬
stigen Umständen einen befriedigenden Erfolg erwarten darf. Aber man be¬
hielt Jülich und Saarlouis bei; zunächst, wie es scheint, nur provisorisch, um
nicht, bevor die Befestigungen der Rheinlinie beendet wären, seine Fronte


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[0263] Wem das Verdienst des Entwurfs zum Befestigungssystem der west¬ lichen preußischen Landesfronte zukommt, dürfte sehr schwer zu'ermitteln sein. In der Zeit, wo darüber endgiltige Feststellungen gemacht wurden, hatten Gneisenau, Boyen und andere bedeutende Ccipacitätcn oberste militärische Stellungen inne; das Ingenieurwesen lag in den Händen des Generals von Rauch, und Stimmen wie die von Grolmann und Clausewitz waren wol nicht ohne Einfluß und wurden gehört und beachtet. Am nächsten mochte man der Wahrheit mit der Annahme kommen, daß die Entscheidung über die wichtige Frage Sache vielfacher Berathungen war, und man dabei in einem hohen Maße überlegt, gewissenhaft und mit vollster Rechnungtragung aller bedingenden und Rücksicht verdienenden Umstände zu Werke gegangen ist. Das Eine stand im Voraus fest: daß der Rheinstrom im Sinne einer defensiven Frvntlmie zu fassen und zugleich für Angriffszwecke als mächtige Basis einzurichten sei. Er bot sich den preußischen Entwürfen in seiner ganzen Ausdehnung von Mainz bis zur niederländischen Grenze dar, aber mit dein Bedingniß, daß südwärts von Koblenz nur eines seiner Ufer dem Staate direct angehört und mithin auf eine beide Stromseiten in ihr Bereich ziehende Festungsanlage hier verzichtet werden mußte. Westwärts vom Rheine als vorgeschobene Punkte fanden sich nur die Festungen Saarlouis und Jülich vor; am Strome selber war Wesel als ein Platz anzusehen, indeß in einem für diesen Zweck ziemlich desolaten Zustand. Köln hatte Napoleon im Jahre 1811 zur Vertheidigung einrichten wollen und es fand sich später ein von ihm einem seiner Secretäre in die Feder dictirtcs Memoire darüber vor, aber die Sache war nicht zur Ausführung gekommen; die Werke von Koblenz endlich waren schon während der Kriege der französischen Republik gesprengt und seitdem nicht wieder hergestellt worden. Rückwärts dem Rhein war von der Geographie des Landes kein näherer Halt geboten als die Weser; dieselbe siel indeß nur innerhalb einer sehr kurzen Strecke auf preußisches Gebiet und hier fand sich Minden mehr als Rest einer alten Festung, wie als ein wohlerhaltencr Platz vor. Wenn sonach die sich bietenden Elemente, an welche man anknüpfen und auf welche man weiter gründen konnte, nur gering waren, hatte man doch andererseits, aus Rücksichten einer weisen Oekonomie, sie wohl wahrzunehmen und zu benutzen. Die Widerstaudsmittel jenseits des Rheins im Westen zu vermehren, schien ungerathen, indem einem so starken und überlegenen Gegner wie Frankreich gegenüber eine weit vorgeschobene Defensive immerhin ihr Mi߬ liches hat, und man in einer derartigen Situation nur unter besonders gün¬ stigen Umständen einen befriedigenden Erfolg erwarten darf. Aber man be¬ hielt Jülich und Saarlouis bei; zunächst, wie es scheint, nur provisorisch, um nicht, bevor die Befestigungen der Rheinlinie beendet wären, seine Fronte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/263>, abgerufen am 28.07.2024.