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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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ihr Lebtag nicht Noten lesen lernten, se, bewahrt jeder seine Selbständigkeit
und befindet sich um so besser dabei, als er auch die gemachten Eroberungen
nicht eben zu theilen liebt.

Auch Straßenmusik andrer Art -- Geigen, Klarinetten, Contrabas,, wie sie
Abends der Marcusplah ausweist -- erinnert an deutschen Einfluß. Man sucht
dergleichen vergebens in andern italischen Städten, In Rom herrscht die seit
einem halben Jahrhundert aus Frankreich eingedrungene Chitarra. hin und
wieder sieht man noch die Mnndoline. In Neapel und am ganzen Golf
führt erstere fast ausschließlich das Wort.

Wenn man nun Gesang als ein Gemeingut des ganzen italienischen
Volks betrachten darf, ein Geschenk, das Toscana. die Lombardei und Sar¬
dinien nur im mindun Grade zu verwerthen wissen als Venedig, die Umgebung
Roms und diejenige Neapels, so geht "och eine melodiöse Aehnlichleit. die
bis jeizt nicht genug beachtet ist, durch die ganze Halbinsel und tritt besonders
demjenigen Hörer nahe, der dem unbelauschten, nicht aufs Gehörtwerden be¬
rechneten Gesänge nachstellt. Es liegt eine sehr nahe Verwandtschaft zwischen
dem Gesang der venezianischen Gondolicrs, der Stanzen aus La Gerusalemme
Nbcrata abhinge, und der Singweise des Carretiere, welcher, mit leeren Wein¬
fässern von Rom nach Albano heimkehrend, in die Ecke seines mit Gardmen-
frnnzcn verzierten, mit bunter Tapete und klingender Glocke geschmückten be¬
deckten Sitzes geduckt, langsam und unermüdlich seine Nitornelli vor sich hin
singt. Und wieder erinnert man sich Beider, or'um man am Golf Neapels,
etwa in den Orangenmafserien Sorrcntos, dem gedehnten, endlosen, eintönigen
Gesänge lauscht, mit welchem der dort Beschäftigte seine Arbeiten begleitet.
Auch hier ist der Weckselgesang vorwiegend, wie dies überall da der Fall ist.
wo die Naturumgebung gemeinsame Wirkungen und verwandte Stimmungen
hervorbringt. Wie der Kanarienvogel durch seinen fernen Landsmann in
Athem gehalten wird, wie ein Frosch dem andern antwortet, wie die Cicade nur
in, Gesellschaft singt, so der Mensch im Garten der Natur. Unzählige Male
haben wir während eines langen Aufenthalts am Golf Neapels die Beobach¬
tung gemacht, daß ein singender den andern zum Antwortgesang hinriß, oft
in Entfernungen, welche es unmöglich erscheinen ließen, daß einer den an¬
dern verstand. Ein dritter aus noch weiterer Ferne mischt sich hinein, ein
vierter, ein fünfter, ein sechster gesellen sich hinzu, häufig ohne einander sehen
zu können, und am Ende klingen von allen Seiten verwandte Tonwciscn, bei
diesem stärker, bei jenem schwächer, bei diesem kunstvoller, bei dem andern
roher, aber immer einander ablösend und in Rhythmus und Tonfall auffallend
ähnlich. Eine Menge Bleistiftnoterl. die den melodiösen Inhalt dieser Sänge
festzuhalten suchen, liegen vor uns. In langsamen Triolen steigt und fällt
die Melodie im Umfange einer Quarte, vausirt, wiederholt sich und sinkt zum


ihr Lebtag nicht Noten lesen lernten, se, bewahrt jeder seine Selbständigkeit
und befindet sich um so besser dabei, als er auch die gemachten Eroberungen
nicht eben zu theilen liebt.

Auch Straßenmusik andrer Art — Geigen, Klarinetten, Contrabas,, wie sie
Abends der Marcusplah ausweist — erinnert an deutschen Einfluß. Man sucht
dergleichen vergebens in andern italischen Städten, In Rom herrscht die seit
einem halben Jahrhundert aus Frankreich eingedrungene Chitarra. hin und
wieder sieht man noch die Mnndoline. In Neapel und am ganzen Golf
führt erstere fast ausschließlich das Wort.

Wenn man nun Gesang als ein Gemeingut des ganzen italienischen
Volks betrachten darf, ein Geschenk, das Toscana. die Lombardei und Sar¬
dinien nur im mindun Grade zu verwerthen wissen als Venedig, die Umgebung
Roms und diejenige Neapels, so geht »och eine melodiöse Aehnlichleit. die
bis jeizt nicht genug beachtet ist, durch die ganze Halbinsel und tritt besonders
demjenigen Hörer nahe, der dem unbelauschten, nicht aufs Gehörtwerden be¬
rechneten Gesänge nachstellt. Es liegt eine sehr nahe Verwandtschaft zwischen
dem Gesang der venezianischen Gondolicrs, der Stanzen aus La Gerusalemme
Nbcrata abhinge, und der Singweise des Carretiere, welcher, mit leeren Wein¬
fässern von Rom nach Albano heimkehrend, in die Ecke seines mit Gardmen-
frnnzcn verzierten, mit bunter Tapete und klingender Glocke geschmückten be¬
deckten Sitzes geduckt, langsam und unermüdlich seine Nitornelli vor sich hin
singt. Und wieder erinnert man sich Beider, or'um man am Golf Neapels,
etwa in den Orangenmafserien Sorrcntos, dem gedehnten, endlosen, eintönigen
Gesänge lauscht, mit welchem der dort Beschäftigte seine Arbeiten begleitet.
Auch hier ist der Weckselgesang vorwiegend, wie dies überall da der Fall ist.
wo die Naturumgebung gemeinsame Wirkungen und verwandte Stimmungen
hervorbringt. Wie der Kanarienvogel durch seinen fernen Landsmann in
Athem gehalten wird, wie ein Frosch dem andern antwortet, wie die Cicade nur
in, Gesellschaft singt, so der Mensch im Garten der Natur. Unzählige Male
haben wir während eines langen Aufenthalts am Golf Neapels die Beobach¬
tung gemacht, daß ein singender den andern zum Antwortgesang hinriß, oft
in Entfernungen, welche es unmöglich erscheinen ließen, daß einer den an¬
dern verstand. Ein dritter aus noch weiterer Ferne mischt sich hinein, ein
vierter, ein fünfter, ein sechster gesellen sich hinzu, häufig ohne einander sehen
zu können, und am Ende klingen von allen Seiten verwandte Tonwciscn, bei
diesem stärker, bei jenem schwächer, bei diesem kunstvoller, bei dem andern
roher, aber immer einander ablösend und in Rhythmus und Tonfall auffallend
ähnlich. Eine Menge Bleistiftnoterl. die den melodiösen Inhalt dieser Sänge
festzuhalten suchen, liegen vor uns. In langsamen Triolen steigt und fällt
die Melodie im Umfange einer Quarte, vausirt, wiederholt sich und sinkt zum


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[0229] ihr Lebtag nicht Noten lesen lernten, se, bewahrt jeder seine Selbständigkeit und befindet sich um so besser dabei, als er auch die gemachten Eroberungen nicht eben zu theilen liebt. Auch Straßenmusik andrer Art — Geigen, Klarinetten, Contrabas,, wie sie Abends der Marcusplah ausweist — erinnert an deutschen Einfluß. Man sucht dergleichen vergebens in andern italischen Städten, In Rom herrscht die seit einem halben Jahrhundert aus Frankreich eingedrungene Chitarra. hin und wieder sieht man noch die Mnndoline. In Neapel und am ganzen Golf führt erstere fast ausschließlich das Wort. Wenn man nun Gesang als ein Gemeingut des ganzen italienischen Volks betrachten darf, ein Geschenk, das Toscana. die Lombardei und Sar¬ dinien nur im mindun Grade zu verwerthen wissen als Venedig, die Umgebung Roms und diejenige Neapels, so geht »och eine melodiöse Aehnlichleit. die bis jeizt nicht genug beachtet ist, durch die ganze Halbinsel und tritt besonders demjenigen Hörer nahe, der dem unbelauschten, nicht aufs Gehörtwerden be¬ rechneten Gesänge nachstellt. Es liegt eine sehr nahe Verwandtschaft zwischen dem Gesang der venezianischen Gondolicrs, der Stanzen aus La Gerusalemme Nbcrata abhinge, und der Singweise des Carretiere, welcher, mit leeren Wein¬ fässern von Rom nach Albano heimkehrend, in die Ecke seines mit Gardmen- frnnzcn verzierten, mit bunter Tapete und klingender Glocke geschmückten be¬ deckten Sitzes geduckt, langsam und unermüdlich seine Nitornelli vor sich hin singt. Und wieder erinnert man sich Beider, or'um man am Golf Neapels, etwa in den Orangenmafserien Sorrcntos, dem gedehnten, endlosen, eintönigen Gesänge lauscht, mit welchem der dort Beschäftigte seine Arbeiten begleitet. Auch hier ist der Weckselgesang vorwiegend, wie dies überall da der Fall ist. wo die Naturumgebung gemeinsame Wirkungen und verwandte Stimmungen hervorbringt. Wie der Kanarienvogel durch seinen fernen Landsmann in Athem gehalten wird, wie ein Frosch dem andern antwortet, wie die Cicade nur in, Gesellschaft singt, so der Mensch im Garten der Natur. Unzählige Male haben wir während eines langen Aufenthalts am Golf Neapels die Beobach¬ tung gemacht, daß ein singender den andern zum Antwortgesang hinriß, oft in Entfernungen, welche es unmöglich erscheinen ließen, daß einer den an¬ dern verstand. Ein dritter aus noch weiterer Ferne mischt sich hinein, ein vierter, ein fünfter, ein sechster gesellen sich hinzu, häufig ohne einander sehen zu können, und am Ende klingen von allen Seiten verwandte Tonwciscn, bei diesem stärker, bei jenem schwächer, bei diesem kunstvoller, bei dem andern roher, aber immer einander ablösend und in Rhythmus und Tonfall auffallend ähnlich. Eine Menge Bleistiftnoterl. die den melodiösen Inhalt dieser Sänge festzuhalten suchen, liegen vor uns. In langsamen Triolen steigt und fällt die Melodie im Umfange einer Quarte, vausirt, wiederholt sich und sinkt zum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/229>, abgerufen am 27.07.2024.