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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Pfüfflein singt, wenn es auf seinem Grauthier über Land trabt; der Urahn,
dem man das noch nicht gehfähige Kind in die Amic gab, singt und bildet
sich nicht ein, die alte Stimme thue es nicht mehr. Ja, wir erinnern uns
einer armen Geistesirren, die unweit Castcllamare in den blauen Morgen
hineinsang, einen großen Blumenstrauß in der Hand und fröhlichen Auges,
als sei ihr recht von Herzen wohl zu Muth, wenn sie so aus voller Brust
singen könne.

Es ist bekannt, daß lautes Lesen als ein diätetisches Auskunftsmittel für
solche Leute empfohlen wird, die sich nicht durch Gehen Bewegung machen
können. Daß der Gesang in noch viel vollerem Maße für Körperbewegung Ersatz
bietet, ist jedem Singenden eine Eroberung eigner Erfahrung. Der Italiener,
ohne sich wie der Schweizer auszuarbeiten, besitzt durchschnittlich einen Brust¬
kasten, der das Entzücken und Erstaunen des nicht italischen Malers und
Bildhauers ausmacht. Es ist etwas Beneidcnswerthes in dieser Sangbevor¬
zugung und ihren gesunden, geistbcfreiendcn Folgen. Es ist nicht zu viel be¬
hauptet, wenn man auf Rechnung des Singens der ganzen Nation die Un¬
möglichkeit schreibt: aus Italien ein Kloster zu machen, wie es andern Län¬
dern begegnet ist.

Venedig steht unter den singenden Städten Italiens ziemlich in erster
Linie. Seine Geräuschlosigkeit ladet dazu ein. Der Venezianer hat das Be¬
dürfniß, das verzauberte Schweigen, weiches über seinen Straßen lagert, von
Zeit zu Zeit zu unterbrechen. Die hohen Häuser, welche seine Kanäle um¬
stehen, verstärken den Schall. Das Nachtwache Treiben der Lagunenstadt for¬
dert zu Serenaden heraus. Die Leichtigkeit der Bewegung von einem Punkte
zum andern gibt dem Sänger Gelegenheit, sein Auditorium nach Belieben zu
wechseln, wenn ers will, unerkannt zu bleiben, oder auch eine zahlreiche Hörer¬
schaft in Gondeln nach sich zu ziehen, wohin ihn die Laune treibt. Eine
Primadonna, welche sich zu dem Gondclsouper irgend eines Mäcens herbei¬
ließ, bringt mitten in der Nacht durch ihre Rouladen und Fioraturen ganz
Venedig aus den Betten und löst hundert Gondeln von den Eisenringen^der
marmornen Palasttreppen. Wer kann daheim bleiben, wenn plötzlich im
Canal Grande oder der Piazzetta ^gegenüber eine jener klangreichen, jugend¬
frischem Stimmen lockt, die nur Italien in Fülle groß zieht?

Aber auch dem vierstimmigen Männergesange, unserm heimischen Kunst¬
privilegium, begegnet man in Venedig. La compagnia dei Pittori, deren
Mitglieder dem kunstfertigen Theile der Beschäftigungen auf dem Staatswerst
obliegen, gibt häusig Abends den Venezianern einen Ohrenschmaus. Ihr
Leiter, Giacomo Bortolini, gilt für einen fähigen Meister und hält die vor¬
handenen tüchtigen Kräfte mit Geschick zusammen.

Das Quartett ist sonst keine italische Pflanze. Da eine Menge Solisten


Pfüfflein singt, wenn es auf seinem Grauthier über Land trabt; der Urahn,
dem man das noch nicht gehfähige Kind in die Amic gab, singt und bildet
sich nicht ein, die alte Stimme thue es nicht mehr. Ja, wir erinnern uns
einer armen Geistesirren, die unweit Castcllamare in den blauen Morgen
hineinsang, einen großen Blumenstrauß in der Hand und fröhlichen Auges,
als sei ihr recht von Herzen wohl zu Muth, wenn sie so aus voller Brust
singen könne.

Es ist bekannt, daß lautes Lesen als ein diätetisches Auskunftsmittel für
solche Leute empfohlen wird, die sich nicht durch Gehen Bewegung machen
können. Daß der Gesang in noch viel vollerem Maße für Körperbewegung Ersatz
bietet, ist jedem Singenden eine Eroberung eigner Erfahrung. Der Italiener,
ohne sich wie der Schweizer auszuarbeiten, besitzt durchschnittlich einen Brust¬
kasten, der das Entzücken und Erstaunen des nicht italischen Malers und
Bildhauers ausmacht. Es ist etwas Beneidcnswerthes in dieser Sangbevor¬
zugung und ihren gesunden, geistbcfreiendcn Folgen. Es ist nicht zu viel be¬
hauptet, wenn man auf Rechnung des Singens der ganzen Nation die Un¬
möglichkeit schreibt: aus Italien ein Kloster zu machen, wie es andern Län¬
dern begegnet ist.

Venedig steht unter den singenden Städten Italiens ziemlich in erster
Linie. Seine Geräuschlosigkeit ladet dazu ein. Der Venezianer hat das Be¬
dürfniß, das verzauberte Schweigen, weiches über seinen Straßen lagert, von
Zeit zu Zeit zu unterbrechen. Die hohen Häuser, welche seine Kanäle um¬
stehen, verstärken den Schall. Das Nachtwache Treiben der Lagunenstadt for¬
dert zu Serenaden heraus. Die Leichtigkeit der Bewegung von einem Punkte
zum andern gibt dem Sänger Gelegenheit, sein Auditorium nach Belieben zu
wechseln, wenn ers will, unerkannt zu bleiben, oder auch eine zahlreiche Hörer¬
schaft in Gondeln nach sich zu ziehen, wohin ihn die Laune treibt. Eine
Primadonna, welche sich zu dem Gondclsouper irgend eines Mäcens herbei¬
ließ, bringt mitten in der Nacht durch ihre Rouladen und Fioraturen ganz
Venedig aus den Betten und löst hundert Gondeln von den Eisenringen^der
marmornen Palasttreppen. Wer kann daheim bleiben, wenn plötzlich im
Canal Grande oder der Piazzetta ^gegenüber eine jener klangreichen, jugend¬
frischem Stimmen lockt, die nur Italien in Fülle groß zieht?

Aber auch dem vierstimmigen Männergesange, unserm heimischen Kunst¬
privilegium, begegnet man in Venedig. La compagnia dei Pittori, deren
Mitglieder dem kunstfertigen Theile der Beschäftigungen auf dem Staatswerst
obliegen, gibt häusig Abends den Venezianern einen Ohrenschmaus. Ihr
Leiter, Giacomo Bortolini, gilt für einen fähigen Meister und hält die vor¬
handenen tüchtigen Kräfte mit Geschick zusammen.

Das Quartett ist sonst keine italische Pflanze. Da eine Menge Solisten


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[0228] Pfüfflein singt, wenn es auf seinem Grauthier über Land trabt; der Urahn, dem man das noch nicht gehfähige Kind in die Amic gab, singt und bildet sich nicht ein, die alte Stimme thue es nicht mehr. Ja, wir erinnern uns einer armen Geistesirren, die unweit Castcllamare in den blauen Morgen hineinsang, einen großen Blumenstrauß in der Hand und fröhlichen Auges, als sei ihr recht von Herzen wohl zu Muth, wenn sie so aus voller Brust singen könne. Es ist bekannt, daß lautes Lesen als ein diätetisches Auskunftsmittel für solche Leute empfohlen wird, die sich nicht durch Gehen Bewegung machen können. Daß der Gesang in noch viel vollerem Maße für Körperbewegung Ersatz bietet, ist jedem Singenden eine Eroberung eigner Erfahrung. Der Italiener, ohne sich wie der Schweizer auszuarbeiten, besitzt durchschnittlich einen Brust¬ kasten, der das Entzücken und Erstaunen des nicht italischen Malers und Bildhauers ausmacht. Es ist etwas Beneidcnswerthes in dieser Sangbevor¬ zugung und ihren gesunden, geistbcfreiendcn Folgen. Es ist nicht zu viel be¬ hauptet, wenn man auf Rechnung des Singens der ganzen Nation die Un¬ möglichkeit schreibt: aus Italien ein Kloster zu machen, wie es andern Län¬ dern begegnet ist. Venedig steht unter den singenden Städten Italiens ziemlich in erster Linie. Seine Geräuschlosigkeit ladet dazu ein. Der Venezianer hat das Be¬ dürfniß, das verzauberte Schweigen, weiches über seinen Straßen lagert, von Zeit zu Zeit zu unterbrechen. Die hohen Häuser, welche seine Kanäle um¬ stehen, verstärken den Schall. Das Nachtwache Treiben der Lagunenstadt for¬ dert zu Serenaden heraus. Die Leichtigkeit der Bewegung von einem Punkte zum andern gibt dem Sänger Gelegenheit, sein Auditorium nach Belieben zu wechseln, wenn ers will, unerkannt zu bleiben, oder auch eine zahlreiche Hörer¬ schaft in Gondeln nach sich zu ziehen, wohin ihn die Laune treibt. Eine Primadonna, welche sich zu dem Gondclsouper irgend eines Mäcens herbei¬ ließ, bringt mitten in der Nacht durch ihre Rouladen und Fioraturen ganz Venedig aus den Betten und löst hundert Gondeln von den Eisenringen^der marmornen Palasttreppen. Wer kann daheim bleiben, wenn plötzlich im Canal Grande oder der Piazzetta ^gegenüber eine jener klangreichen, jugend¬ frischem Stimmen lockt, die nur Italien in Fülle groß zieht? Aber auch dem vierstimmigen Männergesange, unserm heimischen Kunst¬ privilegium, begegnet man in Venedig. La compagnia dei Pittori, deren Mitglieder dem kunstfertigen Theile der Beschäftigungen auf dem Staatswerst obliegen, gibt häusig Abends den Venezianern einen Ohrenschmaus. Ihr Leiter, Giacomo Bortolini, gilt für einen fähigen Meister und hält die vor¬ handenen tüchtigen Kräfte mit Geschick zusammen. Das Quartett ist sonst keine italische Pflanze. Da eine Menge Solisten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/228>, abgerufen am 22.12.2024.