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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Wäre es nicht für den Leser, auch für den Laien interessanter, und für .
die wahre Erkenntniß der Geschichte förderlicher, wenn statt dessen der Geschicht¬
schreiber ihn in seine Studien einführte und ihm Aufklärung/darüber gäbe,
wie man sich über die Beschaffenheit vergangener Zeiten unterrichtet? Freilich
ist diese Arbeit nicht leichter, sondern schwerer als die jetzt beliebte Form,
denn der Geschichtschreiber wird mit großer Umsicht aus seinen Studien die¬
jenigen Punkte auswählen' müssen, die charakteristisch und grade für denjenigen
belehrend sind, der aus der Geschichte kein eigentliches Studium macht. Wir
würden es nicht unternehmen, mit dieser Ansicht hervorzutreten, wenn uns
nicht ein bestimmtes Beispiel vorschwebte, in dem die Aufgabe annäherungs¬
weise glücklich gelöst ist. Wir meinen Thierrys Berichte aus dem Zeitalter
der Merovinger. Thierry führt den Leser in die Quellen ein, die er aber nicht
ausschreibt, sondern die er mit Verstand lesen lehrt, mit jenem Verstand,
den man nur durch vielseitige historische Studien und durch gründliche
Kenntniß aller historischen Hilfswissenschaften erlangt, Auf diese Weise
erfährt mau die Thatsachen grade so genau, wie in einer objectiven Ge¬
schichte, und außerdem erfährt mau/ wie sie sich in der Seele eines ver¬
ständigen Zeitgenossen spiegelten, und lernt das ideale Leben der Zeit
kennen. Trotz d'ieser doppelten Aufmerksamkeit, welche das Buch erfordert
und trotz des ziemlich undankbaren Gegenstandes sind wir sest über¬
zeugt, daß es den gebildeten Leser mehr interessiren. auch, um wieder den
bestimmten Ausdruck zu wählen, mehr unterhalten wird, als eine sogenannte
objective Darstellung.

Nun macht es sich Thierry in einer Beziehung freilich leicht, er gibt keine
fortlaufende Darstellung, sondern nur eine Reihe von Episoden, und diese
Methode wäre für ein Werk, wie das vorliegende, nicht anwendbar, aber
hier kommen wir auf den Punkt, den wir bei jedem Geschichtswerk von
größern Dimensionen für die Hauptsache halten.

Es ist weder nöthig noch wünschenswert!), alle Theile der Geschichte mit
gleicher Ausführlichkeit zu behandeln. Es ist nicht wünschenswert!), denn es
langweilt den Leser und es hat auch durchaus keinen Zweck, daß man erfährt,
was sich in jedem Jahr zugetragen hat. Das historische Gemälde verlangt,
wie jedes Gemälde, eine künstlerische Verkeilung von Licht und Schatten.
Es müssen sich feste massenhafte Gruppen bilden, die eine lebendige, ge¬
wissermaßen dramatische oder epische Spannung hervorbringen; für die Ver¬
bindung untereinander genügt ein Umriß, daß man nur den Faden nickt ver¬
liert. Im gewissen Sinn spiegelt jedes einzelne Ereigniß den Geist des
Ganzen wieder, und je eingehender man eine bestimmte hervorragende Be¬
gebenheit behandelt, desto leichter wird die Phantasie des Lesers die gleich-
giltigen Lücken ergänzen. Man wird dasjenige ins Licht stellen, was in sich


Grenzboten I. 18S3. 27

Wäre es nicht für den Leser, auch für den Laien interessanter, und für .
die wahre Erkenntniß der Geschichte förderlicher, wenn statt dessen der Geschicht¬
schreiber ihn in seine Studien einführte und ihm Aufklärung/darüber gäbe,
wie man sich über die Beschaffenheit vergangener Zeiten unterrichtet? Freilich
ist diese Arbeit nicht leichter, sondern schwerer als die jetzt beliebte Form,
denn der Geschichtschreiber wird mit großer Umsicht aus seinen Studien die¬
jenigen Punkte auswählen' müssen, die charakteristisch und grade für denjenigen
belehrend sind, der aus der Geschichte kein eigentliches Studium macht. Wir
würden es nicht unternehmen, mit dieser Ansicht hervorzutreten, wenn uns
nicht ein bestimmtes Beispiel vorschwebte, in dem die Aufgabe annäherungs¬
weise glücklich gelöst ist. Wir meinen Thierrys Berichte aus dem Zeitalter
der Merovinger. Thierry führt den Leser in die Quellen ein, die er aber nicht
ausschreibt, sondern die er mit Verstand lesen lehrt, mit jenem Verstand,
den man nur durch vielseitige historische Studien und durch gründliche
Kenntniß aller historischen Hilfswissenschaften erlangt, Auf diese Weise
erfährt mau die Thatsachen grade so genau, wie in einer objectiven Ge¬
schichte, und außerdem erfährt mau/ wie sie sich in der Seele eines ver¬
ständigen Zeitgenossen spiegelten, und lernt das ideale Leben der Zeit
kennen. Trotz d'ieser doppelten Aufmerksamkeit, welche das Buch erfordert
und trotz des ziemlich undankbaren Gegenstandes sind wir sest über¬
zeugt, daß es den gebildeten Leser mehr interessiren. auch, um wieder den
bestimmten Ausdruck zu wählen, mehr unterhalten wird, als eine sogenannte
objective Darstellung.

Nun macht es sich Thierry in einer Beziehung freilich leicht, er gibt keine
fortlaufende Darstellung, sondern nur eine Reihe von Episoden, und diese
Methode wäre für ein Werk, wie das vorliegende, nicht anwendbar, aber
hier kommen wir auf den Punkt, den wir bei jedem Geschichtswerk von
größern Dimensionen für die Hauptsache halten.

Es ist weder nöthig noch wünschenswert!), alle Theile der Geschichte mit
gleicher Ausführlichkeit zu behandeln. Es ist nicht wünschenswert!), denn es
langweilt den Leser und es hat auch durchaus keinen Zweck, daß man erfährt,
was sich in jedem Jahr zugetragen hat. Das historische Gemälde verlangt,
wie jedes Gemälde, eine künstlerische Verkeilung von Licht und Schatten.
Es müssen sich feste massenhafte Gruppen bilden, die eine lebendige, ge¬
wissermaßen dramatische oder epische Spannung hervorbringen; für die Ver¬
bindung untereinander genügt ein Umriß, daß man nur den Faden nickt ver¬
liert. Im gewissen Sinn spiegelt jedes einzelne Ereigniß den Geist des
Ganzen wieder, und je eingehender man eine bestimmte hervorragende Be¬
gebenheit behandelt, desto leichter wird die Phantasie des Lesers die gleich-
giltigen Lücken ergänzen. Man wird dasjenige ins Licht stellen, was in sich


Grenzboten I. 18S3. 27
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[0217] Wäre es nicht für den Leser, auch für den Laien interessanter, und für . die wahre Erkenntniß der Geschichte förderlicher, wenn statt dessen der Geschicht¬ schreiber ihn in seine Studien einführte und ihm Aufklärung/darüber gäbe, wie man sich über die Beschaffenheit vergangener Zeiten unterrichtet? Freilich ist diese Arbeit nicht leichter, sondern schwerer als die jetzt beliebte Form, denn der Geschichtschreiber wird mit großer Umsicht aus seinen Studien die¬ jenigen Punkte auswählen' müssen, die charakteristisch und grade für denjenigen belehrend sind, der aus der Geschichte kein eigentliches Studium macht. Wir würden es nicht unternehmen, mit dieser Ansicht hervorzutreten, wenn uns nicht ein bestimmtes Beispiel vorschwebte, in dem die Aufgabe annäherungs¬ weise glücklich gelöst ist. Wir meinen Thierrys Berichte aus dem Zeitalter der Merovinger. Thierry führt den Leser in die Quellen ein, die er aber nicht ausschreibt, sondern die er mit Verstand lesen lehrt, mit jenem Verstand, den man nur durch vielseitige historische Studien und durch gründliche Kenntniß aller historischen Hilfswissenschaften erlangt, Auf diese Weise erfährt mau die Thatsachen grade so genau, wie in einer objectiven Ge¬ schichte, und außerdem erfährt mau/ wie sie sich in der Seele eines ver¬ ständigen Zeitgenossen spiegelten, und lernt das ideale Leben der Zeit kennen. Trotz d'ieser doppelten Aufmerksamkeit, welche das Buch erfordert und trotz des ziemlich undankbaren Gegenstandes sind wir sest über¬ zeugt, daß es den gebildeten Leser mehr interessiren. auch, um wieder den bestimmten Ausdruck zu wählen, mehr unterhalten wird, als eine sogenannte objective Darstellung. Nun macht es sich Thierry in einer Beziehung freilich leicht, er gibt keine fortlaufende Darstellung, sondern nur eine Reihe von Episoden, und diese Methode wäre für ein Werk, wie das vorliegende, nicht anwendbar, aber hier kommen wir auf den Punkt, den wir bei jedem Geschichtswerk von größern Dimensionen für die Hauptsache halten. Es ist weder nöthig noch wünschenswert!), alle Theile der Geschichte mit gleicher Ausführlichkeit zu behandeln. Es ist nicht wünschenswert!), denn es langweilt den Leser und es hat auch durchaus keinen Zweck, daß man erfährt, was sich in jedem Jahr zugetragen hat. Das historische Gemälde verlangt, wie jedes Gemälde, eine künstlerische Verkeilung von Licht und Schatten. Es müssen sich feste massenhafte Gruppen bilden, die eine lebendige, ge¬ wissermaßen dramatische oder epische Spannung hervorbringen; für die Ver¬ bindung untereinander genügt ein Umriß, daß man nur den Faden nickt ver¬ liert. Im gewissen Sinn spiegelt jedes einzelne Ereigniß den Geist des Ganzen wieder, und je eingehender man eine bestimmte hervorragende Be¬ gebenheit behandelt, desto leichter wird die Phantasie des Lesers die gleich- giltigen Lücken ergänzen. Man wird dasjenige ins Licht stellen, was in sich Grenzboten I. 18S3. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/217>, abgerufen am 27.07.2024.