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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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ersten Mal (er ist in den ersten zwanziger Jahren) in das Schauspiel geht
und den König Lear sieht. Sein Vater hat ihn bis dahin verständigerweise
von dem Besuch des Schauspiels zurückgehalten, und der Eindruck ist ihm
daher ganz neu. Um nun die Wichtigkeit dieses Ereignisses deutlich zu machen,
schildert der Dichter das Unternehmen seines Helden als eine große Expedition.
Er beschreibt den Weg von Hause bis ins Theater in einer Stadt, wo er zwanzig
Jahre gelebt, während er doch schon ans Reisen gewöhnt ist, wie eine
Reise nach dem Nordpol. Er erzählt die Geschichte des König Lear bis ins
kleinste Detail, und ebenso sein Nachhausegehn. Hier ist nun die Zweck¬
widrigkeit so ungeheuer, daß man vor Erstaunen sprachlos wird. Um so mehr,
da dieser mit so vieler Emphase beschriebene Theaterbesuch gar keine Folge
hat. ' Der Autobiograph schreibt so, als wenn er im Augenblick des Schrei¬
bens noch auf derselben Bildungsstufe wäre, wie bei seinem ersten Theaterbesuch,
und der Dichter schreibt für das Publicum, als wenn es den König Lear noch
nicht kennte; aber trotz dem sonderbaren Eindruck, den es macht, ein nicht
grade geschicktes Jnhaltsverzeichniß der Tragödie zu lesen, die man aus eigner
Anschauung kennt; trotz dem Mangel an allein Verhältniß zwischen Zweck und
Mittel, trotz der unleugbaren Koketterie, die in dieser Einfachheit liegt <Stif-
ter vergißt z. B. nicht zu erzählen, wie er seinen Hut und Ueberrock dem
Logenschließer übergibt, nach dem Schluß des Theaters wieder abholt und
dafür ein Trinkgeld erlegt), trotz dieser unerhörten Seltsamkeit ahnt man doch,
was dem Dichter vorgeschwebt hat: er wollte nicht das Stück, nicht den Gang
ins Theater, sondern den Eindruck auf die Seele seines Helden schildern. Es
ist ihm nicht gelungen, weil man so etwas einem Neuseeländer überhaupt
nicht schildern kann; es läßt sich nicht in wahrnehmbare einzelne Thatsachen
übersetzen. Es konnte nur in der Form der Reflexion oder humoristisch ge¬
schehn. Von Humor zeigt sich aber bei Stifter nie auch nur die leiseste Spur,
und das ist bei der Dichtungsart. die er sich gewählt, das Charakteristische
seiner Schöpfung.

Den alten Grundsatz der Studien und bunten Steine: das Große
sei klein und das Kleine groß, schärft Stifter auch diesmal seinen Lesern theo¬
retisch und praktisch immer von Neuem ein. So heißt es bei Gelegenheit
einer sehr umständlich analysirten Wetterbeobachtung I. S. 182. "Viele Men¬
schen, welche gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt
der Weit zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es
nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern'Maßstab anlegen
können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab mehr haben.
Das sehn wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandelt. Oft
habe ich gedacht, daß die Erforschung des Menschen und seines Treibens, ja
sogar seiner Geschichte nur ein andrer Zweig der Naturwissenschaft sei" u. s. w.


ersten Mal (er ist in den ersten zwanziger Jahren) in das Schauspiel geht
und den König Lear sieht. Sein Vater hat ihn bis dahin verständigerweise
von dem Besuch des Schauspiels zurückgehalten, und der Eindruck ist ihm
daher ganz neu. Um nun die Wichtigkeit dieses Ereignisses deutlich zu machen,
schildert der Dichter das Unternehmen seines Helden als eine große Expedition.
Er beschreibt den Weg von Hause bis ins Theater in einer Stadt, wo er zwanzig
Jahre gelebt, während er doch schon ans Reisen gewöhnt ist, wie eine
Reise nach dem Nordpol. Er erzählt die Geschichte des König Lear bis ins
kleinste Detail, und ebenso sein Nachhausegehn. Hier ist nun die Zweck¬
widrigkeit so ungeheuer, daß man vor Erstaunen sprachlos wird. Um so mehr,
da dieser mit so vieler Emphase beschriebene Theaterbesuch gar keine Folge
hat. ' Der Autobiograph schreibt so, als wenn er im Augenblick des Schrei¬
bens noch auf derselben Bildungsstufe wäre, wie bei seinem ersten Theaterbesuch,
und der Dichter schreibt für das Publicum, als wenn es den König Lear noch
nicht kennte; aber trotz dem sonderbaren Eindruck, den es macht, ein nicht
grade geschicktes Jnhaltsverzeichniß der Tragödie zu lesen, die man aus eigner
Anschauung kennt; trotz dem Mangel an allein Verhältniß zwischen Zweck und
Mittel, trotz der unleugbaren Koketterie, die in dieser Einfachheit liegt <Stif-
ter vergißt z. B. nicht zu erzählen, wie er seinen Hut und Ueberrock dem
Logenschließer übergibt, nach dem Schluß des Theaters wieder abholt und
dafür ein Trinkgeld erlegt), trotz dieser unerhörten Seltsamkeit ahnt man doch,
was dem Dichter vorgeschwebt hat: er wollte nicht das Stück, nicht den Gang
ins Theater, sondern den Eindruck auf die Seele seines Helden schildern. Es
ist ihm nicht gelungen, weil man so etwas einem Neuseeländer überhaupt
nicht schildern kann; es läßt sich nicht in wahrnehmbare einzelne Thatsachen
übersetzen. Es konnte nur in der Form der Reflexion oder humoristisch ge¬
schehn. Von Humor zeigt sich aber bei Stifter nie auch nur die leiseste Spur,
und das ist bei der Dichtungsart. die er sich gewählt, das Charakteristische
seiner Schöpfung.

Den alten Grundsatz der Studien und bunten Steine: das Große
sei klein und das Kleine groß, schärft Stifter auch diesmal seinen Lesern theo¬
retisch und praktisch immer von Neuem ein. So heißt es bei Gelegenheit
einer sehr umständlich analysirten Wetterbeobachtung I. S. 182. „Viele Men¬
schen, welche gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt
der Weit zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es
nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern'Maßstab anlegen
können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab mehr haben.
Das sehn wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandelt. Oft
habe ich gedacht, daß die Erforschung des Menschen und seines Treibens, ja
sogar seiner Geschichte nur ein andrer Zweig der Naturwissenschaft sei" u. s. w.


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[0174] ersten Mal (er ist in den ersten zwanziger Jahren) in das Schauspiel geht und den König Lear sieht. Sein Vater hat ihn bis dahin verständigerweise von dem Besuch des Schauspiels zurückgehalten, und der Eindruck ist ihm daher ganz neu. Um nun die Wichtigkeit dieses Ereignisses deutlich zu machen, schildert der Dichter das Unternehmen seines Helden als eine große Expedition. Er beschreibt den Weg von Hause bis ins Theater in einer Stadt, wo er zwanzig Jahre gelebt, während er doch schon ans Reisen gewöhnt ist, wie eine Reise nach dem Nordpol. Er erzählt die Geschichte des König Lear bis ins kleinste Detail, und ebenso sein Nachhausegehn. Hier ist nun die Zweck¬ widrigkeit so ungeheuer, daß man vor Erstaunen sprachlos wird. Um so mehr, da dieser mit so vieler Emphase beschriebene Theaterbesuch gar keine Folge hat. ' Der Autobiograph schreibt so, als wenn er im Augenblick des Schrei¬ bens noch auf derselben Bildungsstufe wäre, wie bei seinem ersten Theaterbesuch, und der Dichter schreibt für das Publicum, als wenn es den König Lear noch nicht kennte; aber trotz dem sonderbaren Eindruck, den es macht, ein nicht grade geschicktes Jnhaltsverzeichniß der Tragödie zu lesen, die man aus eigner Anschauung kennt; trotz dem Mangel an allein Verhältniß zwischen Zweck und Mittel, trotz der unleugbaren Koketterie, die in dieser Einfachheit liegt <Stif- ter vergißt z. B. nicht zu erzählen, wie er seinen Hut und Ueberrock dem Logenschließer übergibt, nach dem Schluß des Theaters wieder abholt und dafür ein Trinkgeld erlegt), trotz dieser unerhörten Seltsamkeit ahnt man doch, was dem Dichter vorgeschwebt hat: er wollte nicht das Stück, nicht den Gang ins Theater, sondern den Eindruck auf die Seele seines Helden schildern. Es ist ihm nicht gelungen, weil man so etwas einem Neuseeländer überhaupt nicht schildern kann; es läßt sich nicht in wahrnehmbare einzelne Thatsachen übersetzen. Es konnte nur in der Form der Reflexion oder humoristisch ge¬ schehn. Von Humor zeigt sich aber bei Stifter nie auch nur die leiseste Spur, und das ist bei der Dichtungsart. die er sich gewählt, das Charakteristische seiner Schöpfung. Den alten Grundsatz der Studien und bunten Steine: das Große sei klein und das Kleine groß, schärft Stifter auch diesmal seinen Lesern theo¬ retisch und praktisch immer von Neuem ein. So heißt es bei Gelegenheit einer sehr umständlich analysirten Wetterbeobachtung I. S. 182. „Viele Men¬ schen, welche gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt der Weit zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern'Maßstab anlegen können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab mehr haben. Das sehn wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandelt. Oft habe ich gedacht, daß die Erforschung des Menschen und seines Treibens, ja sogar seiner Geschichte nur ein andrer Zweig der Naturwissenschaft sei" u. s. w.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/174>, abgerufen am 27.07.2024.