Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

derer Vorliebe in der Dczilii-moral; bewegt, jener Region die zwischen den
verworfenen Spelunken des Lasters und der sogenannten guten Gesellschaft
in der Mitte liegt. Tugendhafte Freudenmädchen und tragische Bajazzos sind
freilich kein sehr erhebender Gegenstand, aber auch unser Theater hat seine
oval-monte, die an Häßlichkeit der andern nichts nachgiebt. Es ist. kurz
gesagt, das Tollhaus. Seit Holtei's Lorbeerbaum und Bettelstab hat
sich die Zahl der Verrückten auf unsern Bühnen auf eine Schrecken erre¬
gende Weise gesteigert, und auch da, wo der Gegenstand alle derartigen Aus¬
wüchse M verbannen scheint, werden sie künstlich eingeschmuggelt, wie z. B.
in Mosenthal's Bürger und Molly. Wir haben von unserm Publicum
eine viel zu gute Meinung, als daß wir den Grund des Wohlgefallens in
etwas Aehnlichem suchen würden, wie bei den Gladiatorspielen des römischen
Circus. Er liegt vielmehr bei uns wie den Franzosen in der Virtuosität
unserer Schauspieler in der Ausmalung greller Contraste. Diese Virtuosität
hat das Publicum daran gewöhnt, nur solche Rollen gelten zu lassen, in
denen der Schauspieler in schneller Folge lacht und weint, jubelt und heult, im
höchsten Entzücken schwelgt und sich die Haare ausrauft. Die Franzosen haben es
darin bequemer, sie sind als geborne Acteurs schon im gewöhnlichem Leben ge¬
neigt, sich zu montiren, und unvermittelt eine wilde leidenschaftliche Stimmung
eintreten zu lassen. Wir Deutsche haben auch in der Leidenschaft etwas Ge-
setztes, und so tritt die Poesie des Contrastes erst dann ein. wenn das Indi¬
viduum die Tramontane verloren hat.

Kann man sich nun für diesen Zweck einen dankbareren Stoff denken als
Nameaus Neffe? Dieser Cyniker, aus Goethes Uebersetzung hinlänglich
bekannt, bietet in seinem Charakter eine Mischung der entgegengesetztesten
Eigenschaften. Er hat Geist, anch ein gewisses Gefühl, aber das alles ist
in liederlichen Müsiggang untergegangen und er hat kein weiteres Geschäft
im Leben, als auf alle Welt zu lästern. Der Dialog ist so reizend geschrieben,
daß der Dichter, der ihn für seine Tragödie verwerthen will, auf die Erfin¬
dung keine große Mühe zu verwenden braucht, er kann Wort für Wort ganze
Stellen aufnehmen. Nun fehlt freilich noch der tragische Hautgout, denn
Diderots Dialog macht trotz aller Bitterkeiten einen vorwiegend possenhaften
Eindruck. Aber auch dieser Zusatz ist leicht gefunden! Rameau ist durch eine
unglückliche Liebe verrückt geworden, und in der Tiefe seiner Seele schlummert
trotz seines Lasterlebens der Trieb,,durch irgend eine große That die Mensch¬
heit zu beglücken. Welch herrlicher Kontrast der Accente! vom erhabensten
Pathos bis zum cynischen Grinsen herab die ganze Scala durch. Und um
die Tragik zu vervollständigen, muß seine Vergangenheit mit seiner Bestimmung
zusammenhängen: die Schlange, welche sein Leben vergiftet hat, ist dieselbe,


derer Vorliebe in der Dczilii-moral; bewegt, jener Region die zwischen den
verworfenen Spelunken des Lasters und der sogenannten guten Gesellschaft
in der Mitte liegt. Tugendhafte Freudenmädchen und tragische Bajazzos sind
freilich kein sehr erhebender Gegenstand, aber auch unser Theater hat seine
oval-monte, die an Häßlichkeit der andern nichts nachgiebt. Es ist. kurz
gesagt, das Tollhaus. Seit Holtei's Lorbeerbaum und Bettelstab hat
sich die Zahl der Verrückten auf unsern Bühnen auf eine Schrecken erre¬
gende Weise gesteigert, und auch da, wo der Gegenstand alle derartigen Aus¬
wüchse M verbannen scheint, werden sie künstlich eingeschmuggelt, wie z. B.
in Mosenthal's Bürger und Molly. Wir haben von unserm Publicum
eine viel zu gute Meinung, als daß wir den Grund des Wohlgefallens in
etwas Aehnlichem suchen würden, wie bei den Gladiatorspielen des römischen
Circus. Er liegt vielmehr bei uns wie den Franzosen in der Virtuosität
unserer Schauspieler in der Ausmalung greller Contraste. Diese Virtuosität
hat das Publicum daran gewöhnt, nur solche Rollen gelten zu lassen, in
denen der Schauspieler in schneller Folge lacht und weint, jubelt und heult, im
höchsten Entzücken schwelgt und sich die Haare ausrauft. Die Franzosen haben es
darin bequemer, sie sind als geborne Acteurs schon im gewöhnlichem Leben ge¬
neigt, sich zu montiren, und unvermittelt eine wilde leidenschaftliche Stimmung
eintreten zu lassen. Wir Deutsche haben auch in der Leidenschaft etwas Ge-
setztes, und so tritt die Poesie des Contrastes erst dann ein. wenn das Indi¬
viduum die Tramontane verloren hat.

Kann man sich nun für diesen Zweck einen dankbareren Stoff denken als
Nameaus Neffe? Dieser Cyniker, aus Goethes Uebersetzung hinlänglich
bekannt, bietet in seinem Charakter eine Mischung der entgegengesetztesten
Eigenschaften. Er hat Geist, anch ein gewisses Gefühl, aber das alles ist
in liederlichen Müsiggang untergegangen und er hat kein weiteres Geschäft
im Leben, als auf alle Welt zu lästern. Der Dialog ist so reizend geschrieben,
daß der Dichter, der ihn für seine Tragödie verwerthen will, auf die Erfin¬
dung keine große Mühe zu verwenden braucht, er kann Wort für Wort ganze
Stellen aufnehmen. Nun fehlt freilich noch der tragische Hautgout, denn
Diderots Dialog macht trotz aller Bitterkeiten einen vorwiegend possenhaften
Eindruck. Aber auch dieser Zusatz ist leicht gefunden! Rameau ist durch eine
unglückliche Liebe verrückt geworden, und in der Tiefe seiner Seele schlummert
trotz seines Lasterlebens der Trieb,,durch irgend eine große That die Mensch¬
heit zu beglücken. Welch herrlicher Kontrast der Accente! vom erhabensten
Pathos bis zum cynischen Grinsen herab die ganze Scala durch. Und um
die Tragik zu vervollständigen, muß seine Vergangenheit mit seiner Bestimmung
zusammenhängen: die Schlange, welche sein Leben vergiftet hat, ist dieselbe,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0158" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105435"/>
          <p xml:id="ID_353" prev="#ID_352"> derer Vorliebe in der Dczilii-moral; bewegt, jener Region die zwischen den<lb/>
verworfenen Spelunken des Lasters und der sogenannten guten Gesellschaft<lb/>
in der Mitte liegt. Tugendhafte Freudenmädchen und tragische Bajazzos sind<lb/>
freilich kein sehr erhebender Gegenstand, aber auch unser Theater hat seine<lb/>
oval-monte, die an Häßlichkeit der andern nichts nachgiebt. Es ist. kurz<lb/>
gesagt, das Tollhaus. Seit Holtei's Lorbeerbaum und Bettelstab hat<lb/>
sich die Zahl der Verrückten auf unsern Bühnen auf eine Schrecken erre¬<lb/>
gende Weise gesteigert, und auch da, wo der Gegenstand alle derartigen Aus¬<lb/>
wüchse M verbannen scheint, werden sie künstlich eingeschmuggelt, wie z. B.<lb/>
in Mosenthal's Bürger und Molly. Wir haben von unserm Publicum<lb/>
eine viel zu gute Meinung, als daß wir den Grund des Wohlgefallens in<lb/>
etwas Aehnlichem suchen würden, wie bei den Gladiatorspielen des römischen<lb/>
Circus. Er liegt vielmehr bei uns wie den Franzosen in der Virtuosität<lb/>
unserer Schauspieler in der Ausmalung greller Contraste. Diese Virtuosität<lb/>
hat das Publicum daran gewöhnt, nur solche Rollen gelten zu lassen, in<lb/>
denen der Schauspieler in schneller Folge lacht und weint, jubelt und heult, im<lb/>
höchsten Entzücken schwelgt und sich die Haare ausrauft. Die Franzosen haben es<lb/>
darin bequemer, sie sind als geborne Acteurs schon im gewöhnlichem Leben ge¬<lb/>
neigt, sich zu montiren, und unvermittelt eine wilde leidenschaftliche Stimmung<lb/>
eintreten zu lassen. Wir Deutsche haben auch in der Leidenschaft etwas Ge-<lb/>
setztes, und so tritt die Poesie des Contrastes erst dann ein. wenn das Indi¬<lb/>
viduum die Tramontane verloren hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_354" next="#ID_355"> Kann man sich nun für diesen Zweck einen dankbareren Stoff denken als<lb/>
Nameaus Neffe? Dieser Cyniker, aus Goethes Uebersetzung hinlänglich<lb/>
bekannt, bietet in seinem Charakter eine Mischung der entgegengesetztesten<lb/>
Eigenschaften. Er hat Geist, anch ein gewisses Gefühl, aber das alles ist<lb/>
in liederlichen Müsiggang untergegangen und er hat kein weiteres Geschäft<lb/>
im Leben, als auf alle Welt zu lästern. Der Dialog ist so reizend geschrieben,<lb/>
daß der Dichter, der ihn für seine Tragödie verwerthen will, auf die Erfin¬<lb/>
dung keine große Mühe zu verwenden braucht, er kann Wort für Wort ganze<lb/>
Stellen aufnehmen. Nun fehlt freilich noch der tragische Hautgout, denn<lb/>
Diderots Dialog macht trotz aller Bitterkeiten einen vorwiegend possenhaften<lb/>
Eindruck. Aber auch dieser Zusatz ist leicht gefunden! Rameau ist durch eine<lb/>
unglückliche Liebe verrückt geworden, und in der Tiefe seiner Seele schlummert<lb/>
trotz seines Lasterlebens der Trieb,,durch irgend eine große That die Mensch¬<lb/>
heit zu beglücken. Welch herrlicher Kontrast der Accente! vom erhabensten<lb/>
Pathos bis zum cynischen Grinsen herab die ganze Scala durch. Und um<lb/>
die Tragik zu vervollständigen, muß seine Vergangenheit mit seiner Bestimmung<lb/>
zusammenhängen: die Schlange, welche sein Leben vergiftet hat, ist dieselbe,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0158] derer Vorliebe in der Dczilii-moral; bewegt, jener Region die zwischen den verworfenen Spelunken des Lasters und der sogenannten guten Gesellschaft in der Mitte liegt. Tugendhafte Freudenmädchen und tragische Bajazzos sind freilich kein sehr erhebender Gegenstand, aber auch unser Theater hat seine oval-monte, die an Häßlichkeit der andern nichts nachgiebt. Es ist. kurz gesagt, das Tollhaus. Seit Holtei's Lorbeerbaum und Bettelstab hat sich die Zahl der Verrückten auf unsern Bühnen auf eine Schrecken erre¬ gende Weise gesteigert, und auch da, wo der Gegenstand alle derartigen Aus¬ wüchse M verbannen scheint, werden sie künstlich eingeschmuggelt, wie z. B. in Mosenthal's Bürger und Molly. Wir haben von unserm Publicum eine viel zu gute Meinung, als daß wir den Grund des Wohlgefallens in etwas Aehnlichem suchen würden, wie bei den Gladiatorspielen des römischen Circus. Er liegt vielmehr bei uns wie den Franzosen in der Virtuosität unserer Schauspieler in der Ausmalung greller Contraste. Diese Virtuosität hat das Publicum daran gewöhnt, nur solche Rollen gelten zu lassen, in denen der Schauspieler in schneller Folge lacht und weint, jubelt und heult, im höchsten Entzücken schwelgt und sich die Haare ausrauft. Die Franzosen haben es darin bequemer, sie sind als geborne Acteurs schon im gewöhnlichem Leben ge¬ neigt, sich zu montiren, und unvermittelt eine wilde leidenschaftliche Stimmung eintreten zu lassen. Wir Deutsche haben auch in der Leidenschaft etwas Ge- setztes, und so tritt die Poesie des Contrastes erst dann ein. wenn das Indi¬ viduum die Tramontane verloren hat. Kann man sich nun für diesen Zweck einen dankbareren Stoff denken als Nameaus Neffe? Dieser Cyniker, aus Goethes Uebersetzung hinlänglich bekannt, bietet in seinem Charakter eine Mischung der entgegengesetztesten Eigenschaften. Er hat Geist, anch ein gewisses Gefühl, aber das alles ist in liederlichen Müsiggang untergegangen und er hat kein weiteres Geschäft im Leben, als auf alle Welt zu lästern. Der Dialog ist so reizend geschrieben, daß der Dichter, der ihn für seine Tragödie verwerthen will, auf die Erfin¬ dung keine große Mühe zu verwenden braucht, er kann Wort für Wort ganze Stellen aufnehmen. Nun fehlt freilich noch der tragische Hautgout, denn Diderots Dialog macht trotz aller Bitterkeiten einen vorwiegend possenhaften Eindruck. Aber auch dieser Zusatz ist leicht gefunden! Rameau ist durch eine unglückliche Liebe verrückt geworden, und in der Tiefe seiner Seele schlummert trotz seines Lasterlebens der Trieb,,durch irgend eine große That die Mensch¬ heit zu beglücken. Welch herrlicher Kontrast der Accente! vom erhabensten Pathos bis zum cynischen Grinsen herab die ganze Scala durch. Und um die Tragik zu vervollständigen, muß seine Vergangenheit mit seiner Bestimmung zusammenhängen: die Schlange, welche sein Leben vergiftet hat, ist dieselbe,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/158
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/158>, abgerufen am 22.12.2024.