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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Das klingt freilich so charlatanmäßig; die diesen paradoxen Sal? zuerst aus¬
gesprochen, sind überdies so häusig der Uebertreibung verdächtigt worden, daß
ihre Entdeckung spurlos verhallte. Wie viel sicherer und siegesbewußter wären
sie noch aufgetreten, wenn sie Gays Carteggio gekannt und daselbst die Ver¬
sicherung Palladios gelesen hätten: "Alle Städte Italiens sind erfüllt von
gothischen Bauwerken." ,

Noch Auffallenderes lehrt der Einblick in den von Gay veröffentlichten
italienischen Urkundenschatz. Zu einer Zeit, wo der Renaissancestil schon dem
Verfall sich näherte, wo wir in Deutschland und Frankreich bereits ganz un-.
bedingt der Antike huldigten, Sinn und Freude am Altheimischcn völlig ver-
loren hatten, loderte in einer italienischen, kunstreichen Stadt noch ein feuriger
Localenthusiasmus für die gothische Architektur auf. Diese zählte am Schluß
des 16. Jahrhunderts, also ein volles Jahrhundert noch nach ihrem Absterben
in Deutschland, in Bologna ebenso viele begeisterte Freunde, als ander¬
wärts die Renaissance Verehrer. Als die gelehrten Architekten einen gothisch
begonnenen Bau in römischen Formen vollenden wollten, gab es eine gar
gewaltige Aufregung in den städtischen Kreisen. Es fehlte nicht viel, und
"gothisch" oder "antik" wäre, im I. 1589 das Feldgeschrei zweier Parteien
geworden.

Ein enthusiastischer Schneider, Namens Carlo Cremona, hatte statt der
Elle den Zirkel zur Hand genommen, den Kopf mit Tncmgulirungen und
Quadraturen erfüllt, sich als Volkstribun erhoben und für die alte Gothik,
wie er sie verstand, Anhänger geworben. Es gelang ihm, seine Anschau¬
ungen volksthümlich zu machen, einen Stillstand im Baue, und eine neue
Prüfung der bis dahin entworfenen Pläne zu erzwingen. Schon dies konnte
er als Sieg sich anrechnen, daß die gelehrten Architekten den Handschuh auf¬
hoben und in weitläufigen Denkschriften ihre Entwürfe gegen seine Angriffe
vertheidigten. Und wenn auch schließlich des Schneiders Bemühungen keine
praktischen Folgen hatten, so blieb doch sein Ehrgeiz nicht ohne Befriedigung.
Er zog selbst den päpstlichen Hos in den Streit hinein und galt mehre Mo¬
nate bei seinen Mitbürgern als der populärste, bei den fremden gelehrten Ar¬
chitekten als der gehaßteste Mann.

Das Schauspiel, das in Bologna am Schlüsse des 16. Jahrhunderts
aufgeführt wurde, hat insofern auch heutzutage, wo es sich um die Wieder-
velebung der italienischen Gothik handelt, einen praktischen Werth, als es
das lange Vorhalten gothischer Sympathien an einzelnen Punkten Italiens
offenbart: abgesehen davon hat es noch einen großen culturgeschichtlichen
Reiz, so daß eine eingehendere Schilderung seines Verlaufes aus Grundlage
der von Gay mitgetheilten Urkunden (etwa 30 an der Zahl) vielleicht nicht
ohne Interesse befunden werden dürfte.


16*

Das klingt freilich so charlatanmäßig; die diesen paradoxen Sal? zuerst aus¬
gesprochen, sind überdies so häusig der Uebertreibung verdächtigt worden, daß
ihre Entdeckung spurlos verhallte. Wie viel sicherer und siegesbewußter wären
sie noch aufgetreten, wenn sie Gays Carteggio gekannt und daselbst die Ver¬
sicherung Palladios gelesen hätten: „Alle Städte Italiens sind erfüllt von
gothischen Bauwerken." ,

Noch Auffallenderes lehrt der Einblick in den von Gay veröffentlichten
italienischen Urkundenschatz. Zu einer Zeit, wo der Renaissancestil schon dem
Verfall sich näherte, wo wir in Deutschland und Frankreich bereits ganz un-.
bedingt der Antike huldigten, Sinn und Freude am Altheimischcn völlig ver-
loren hatten, loderte in einer italienischen, kunstreichen Stadt noch ein feuriger
Localenthusiasmus für die gothische Architektur auf. Diese zählte am Schluß
des 16. Jahrhunderts, also ein volles Jahrhundert noch nach ihrem Absterben
in Deutschland, in Bologna ebenso viele begeisterte Freunde, als ander¬
wärts die Renaissance Verehrer. Als die gelehrten Architekten einen gothisch
begonnenen Bau in römischen Formen vollenden wollten, gab es eine gar
gewaltige Aufregung in den städtischen Kreisen. Es fehlte nicht viel, und
„gothisch" oder „antik" wäre, im I. 1589 das Feldgeschrei zweier Parteien
geworden.

Ein enthusiastischer Schneider, Namens Carlo Cremona, hatte statt der
Elle den Zirkel zur Hand genommen, den Kopf mit Tncmgulirungen und
Quadraturen erfüllt, sich als Volkstribun erhoben und für die alte Gothik,
wie er sie verstand, Anhänger geworben. Es gelang ihm, seine Anschau¬
ungen volksthümlich zu machen, einen Stillstand im Baue, und eine neue
Prüfung der bis dahin entworfenen Pläne zu erzwingen. Schon dies konnte
er als Sieg sich anrechnen, daß die gelehrten Architekten den Handschuh auf¬
hoben und in weitläufigen Denkschriften ihre Entwürfe gegen seine Angriffe
vertheidigten. Und wenn auch schließlich des Schneiders Bemühungen keine
praktischen Folgen hatten, so blieb doch sein Ehrgeiz nicht ohne Befriedigung.
Er zog selbst den päpstlichen Hos in den Streit hinein und galt mehre Mo¬
nate bei seinen Mitbürgern als der populärste, bei den fremden gelehrten Ar¬
chitekten als der gehaßteste Mann.

Das Schauspiel, das in Bologna am Schlüsse des 16. Jahrhunderts
aufgeführt wurde, hat insofern auch heutzutage, wo es sich um die Wieder-
velebung der italienischen Gothik handelt, einen praktischen Werth, als es
das lange Vorhalten gothischer Sympathien an einzelnen Punkten Italiens
offenbart: abgesehen davon hat es noch einen großen culturgeschichtlichen
Reiz, so daß eine eingehendere Schilderung seines Verlaufes aus Grundlage
der von Gay mitgetheilten Urkunden (etwa 30 an der Zahl) vielleicht nicht
ohne Interesse befunden werden dürfte.


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[0131] Das klingt freilich so charlatanmäßig; die diesen paradoxen Sal? zuerst aus¬ gesprochen, sind überdies so häusig der Uebertreibung verdächtigt worden, daß ihre Entdeckung spurlos verhallte. Wie viel sicherer und siegesbewußter wären sie noch aufgetreten, wenn sie Gays Carteggio gekannt und daselbst die Ver¬ sicherung Palladios gelesen hätten: „Alle Städte Italiens sind erfüllt von gothischen Bauwerken." , Noch Auffallenderes lehrt der Einblick in den von Gay veröffentlichten italienischen Urkundenschatz. Zu einer Zeit, wo der Renaissancestil schon dem Verfall sich näherte, wo wir in Deutschland und Frankreich bereits ganz un-. bedingt der Antike huldigten, Sinn und Freude am Altheimischcn völlig ver- loren hatten, loderte in einer italienischen, kunstreichen Stadt noch ein feuriger Localenthusiasmus für die gothische Architektur auf. Diese zählte am Schluß des 16. Jahrhunderts, also ein volles Jahrhundert noch nach ihrem Absterben in Deutschland, in Bologna ebenso viele begeisterte Freunde, als ander¬ wärts die Renaissance Verehrer. Als die gelehrten Architekten einen gothisch begonnenen Bau in römischen Formen vollenden wollten, gab es eine gar gewaltige Aufregung in den städtischen Kreisen. Es fehlte nicht viel, und „gothisch" oder „antik" wäre, im I. 1589 das Feldgeschrei zweier Parteien geworden. Ein enthusiastischer Schneider, Namens Carlo Cremona, hatte statt der Elle den Zirkel zur Hand genommen, den Kopf mit Tncmgulirungen und Quadraturen erfüllt, sich als Volkstribun erhoben und für die alte Gothik, wie er sie verstand, Anhänger geworben. Es gelang ihm, seine Anschau¬ ungen volksthümlich zu machen, einen Stillstand im Baue, und eine neue Prüfung der bis dahin entworfenen Pläne zu erzwingen. Schon dies konnte er als Sieg sich anrechnen, daß die gelehrten Architekten den Handschuh auf¬ hoben und in weitläufigen Denkschriften ihre Entwürfe gegen seine Angriffe vertheidigten. Und wenn auch schließlich des Schneiders Bemühungen keine praktischen Folgen hatten, so blieb doch sein Ehrgeiz nicht ohne Befriedigung. Er zog selbst den päpstlichen Hos in den Streit hinein und galt mehre Mo¬ nate bei seinen Mitbürgern als der populärste, bei den fremden gelehrten Ar¬ chitekten als der gehaßteste Mann. Das Schauspiel, das in Bologna am Schlüsse des 16. Jahrhunderts aufgeführt wurde, hat insofern auch heutzutage, wo es sich um die Wieder- velebung der italienischen Gothik handelt, einen praktischen Werth, als es das lange Vorhalten gothischer Sympathien an einzelnen Punkten Italiens offenbart: abgesehen davon hat es noch einen großen culturgeschichtlichen Reiz, so daß eine eingehendere Schilderung seines Verlaufes aus Grundlage der von Gay mitgetheilten Urkunden (etwa 30 an der Zahl) vielleicht nicht ohne Interesse befunden werden dürfte. 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/131>, abgerufen am 27.07.2024.