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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Literatur.
Französische Kritik.

— Daß diejenige Periode der französischen Literatur, welche
bald nach dem Sturz des Kaiserreichs beginnt, einige Jahre nach der Julirevolution
ihre höchste Blüte erreicht, und dann vermittelst einer unerhörten Massenwirkung
die Februarrevolution motivirt, seit dem Eintritts jener Katastrophe in schneller Ab¬
nahme begriffen ist, konnte man schon seit mehrern Jahren wahrnehmen. Am
auffallendsten ist es im vergangenen Jahr hervorgetreten, wo der Tod eine Menge
der alten Berühmtheiten hinwegraffte. Man würde aber ebenso unrecht thun,
daraus aus eine Abschwächung des Volksgeistes im Allgemeinen zu schließen, als
wenn man aus ähnlichen Symptomen in Deutschland denselben Schluß ziehen
wollte. Die Poesie, gleichviel ob in guter oder schlimmer Richtung, blüht nur in
einer Zeit, wo ein allgemeiner Glaube oder ein allgemeines Vorurtheil die Menge
beherrscht, auf das man sich ohne weiteres berufen kann, in einer Zeit, die von
Idealen gesättigt ist oder sich wenigstens nach Idealen sehnt. Nichts ist so geeignet,
diesen Idealismus niederzuschlagen, als eine große Krisis, die ihren Zweck verfehlt.
So war es bei der großen Erhebung von 1789, so bei der kleineren von 1848.
Die alten Ueberzeugungen und Hoffnungen haben'sich als nichtig erwiesen, ein all¬
gemeiner Zweifel umspinnt mit feinem düstern Netz die Gebilde des Glaubens und
die Regungen des öffentlichen Lebens. Es wird in Frankreich jetzt viel von
Christenthum und Kirche geredet, aber das ist nichts weiter, als die Furcht vor dem
Geist der Umwälzung, den man nur durch die alten Zauberformeln zu bannen ver¬
steht. Eine solche Zeit ist so recht für die kritische und historische Betrachtung der
Dinge geeignet. Da die schöpferische Kraft nur spärlich hervortritt, will man sich
wenigstens die frühern Schöpfungen vergegenwärtigen, und sich mit den alten Ideen,
denen man früher blindlings folgte, kritisch auseinandersetzen. Daß die Prosa
diesen Augenblick auch in Frankreich den Sieg davon trägt, davon überzeugt uns
am schnellsten ein Einblick in die Zeitschriften, die beide Zweige der Literatur mit¬
einander zu verbinden streben. Die poetischen Leistungen werden immer schwächer,
immer unbedeutender, immer farbloser, während die Prosa, und grade diejenige Prosa,
die sich für Kritik und Geschichtschreibung eignet, ganz ungeheure Fortschritte ge¬
macht hat. Es ist mitunter eine wahre Freude, in einer der beliebten Zeitschriften,
namentlich in der Revue de deux Mondes eine kritische Abhandlung zu lesen. Wenn
man ganz davon absieht, daß der Inhalt sich vertieft, die Gesichtspunkte sich er¬
weitert haben, so gewährt bereits die Form einen wirklichen Kunstgenuß. Wer sich
von der neuen französischen Prosa aus den classischen Schulreminiscenzen ein'Bild machen
wollte, würde im starken Irrthum sein; von der schnurgeraden Satzbildung und
den abstracten Formeln der alten Prosa ist keine Rede mehr, die Sprache hat etwas
Bildliches und so zu sagen Körperhaftes, während doch die Neigung zum Schwulst,
die durch Chatcaubricmds Vorbild auf bedenkliche Weise in der Sprache Voltaires
sich einbürgerte, fast ganz überwunden ist.

Wir haben einen bestimmten Werthmesscr, um das Steigen und Fallen der
verschiedenen literarischen Richtungen innerhalb der öffentlichen Meinung zu verfolgen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/126>, abgerufen am 30.12.2024.