Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dem absoluten Wissen neugeboren, der Geist in seinem eigenen reinen Aether
sich zu vollendeter Gestaltung bereite? Die Briefe an Niethammer, mit denen
Hegel seine Manuscriplsendungen begleitete, drückten -- um die Worte seines
Biographen zu brauchen -- seine "grenzenlose Besorgnis)" über den möglichen
Untergang seiner mühsamen Arbeit aus. Einer dieser Briefe trägt das Datum
des Tages vor der Entscheidungsschlacht. Es war der Tag, an welchem der
Usurpator in den Mauern von Jena eingetroffen war. 'Er hatte ihn gesehen,
den Mann, welcher seinem Vaterlande dasselbe Schicksal brachte wie Philipp
Von Macedonien den Griechen. Ich habe, schrieb Hegel, den Kaiser, "diese
Weltseele", gesehen. Es ist in der That eine wunderbare Empfindung, ein
solches Individuum zu sehen, das hier, auf einen Punkt concentrirt, auf
einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. Den
Preußen war freilich kein besseres Prognostikon zu stellen -- aber von
Donnerstag bis Montag sind solche Fortschritte nur diesem außerordentlichen
Manne möglich, den es nicht möglich ist, nicht zu, bewundern." Und er be¬
wunderte nicht blos den einen Mann, sondern die ganze Nation. In der
Geschichte deS Tages sah er, wie er ein Vierteljahr spater schreibt, den über¬
zeugenden Beweis davon, "daß Bildung über Roheit und der Geist über
geistlosen Verstand und Klügelei den Sieg davonträgt." Wie ich schou früher
that," so fügte er jenen Aeußerungen in dem Briefe an Niethammer hinzu,
"so wünschen nun alle der französischen Armee Glück, was ihr bei dem ganz
ungeheuren Unterschiede ihrer Anführer und des gemeinen Soldaten von
ihren Feinden auch gar nicht fehlen kann. So wird unsere Gegend von
diesem Schwall bald befreit werden."

ES ist gleich schmerzlich, diese scrnpellvs kalten Worte zu referiren, wie
sie zu beurtheilen und zu erklären. Denn ohne Zweifel, eS wäre im höchsten
Grade unbillig, Hegel allein und persönlich für ihre Schmach verantwortlich
zu machen. Als der Angehörige eines kleinen und despotisch regierten
deutschen Staates hatte er zwar lebhaft die Sehnsucht, aber niemals die Be¬
friedigung empfunden, einem großen gemeinsamen Vaterlande anzugehören.
Der Verfall des deutschen Reiches schrieb sich nicht erst von heule und
gestern her, und die Deutschen hatten aufgehört, staatlich verbunden zu sein,
ehe Napoleons Hand die morschen Bande vollends in Stücke riß. Niemand
hatte hierüber eine klarere Einsicht, niemand hatte diese Zustände, niemand
auch die damit zusammenhängende "Verschlossenheit und Dumpfheit" der
Deutschen und ihre "Trägheit gegen die Wirklichkeit" treffender charakterisirt
als Hegel. Zu der Schrift über die Verfassung Deutschlands finde" sich in
seinem jenenser Wastebook zahlreiche ergänzende Glossen. Allein seine Ein¬
sicht war eben Einsicht geblieben und seine Kritik stand mitten in dem Elemente,
welches sie kritisirte. Die Bemerkungen, die er über den Charakter der Deutschen


Greiizbott". IV. 1867. 12

dem absoluten Wissen neugeboren, der Geist in seinem eigenen reinen Aether
sich zu vollendeter Gestaltung bereite? Die Briefe an Niethammer, mit denen
Hegel seine Manuscriplsendungen begleitete, drückten — um die Worte seines
Biographen zu brauchen — seine „grenzenlose Besorgnis)" über den möglichen
Untergang seiner mühsamen Arbeit aus. Einer dieser Briefe trägt das Datum
des Tages vor der Entscheidungsschlacht. Es war der Tag, an welchem der
Usurpator in den Mauern von Jena eingetroffen war. 'Er hatte ihn gesehen,
den Mann, welcher seinem Vaterlande dasselbe Schicksal brachte wie Philipp
Von Macedonien den Griechen. Ich habe, schrieb Hegel, den Kaiser, „diese
Weltseele", gesehen. Es ist in der That eine wunderbare Empfindung, ein
solches Individuum zu sehen, das hier, auf einen Punkt concentrirt, auf
einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. Den
Preußen war freilich kein besseres Prognostikon zu stellen — aber von
Donnerstag bis Montag sind solche Fortschritte nur diesem außerordentlichen
Manne möglich, den es nicht möglich ist, nicht zu, bewundern." Und er be¬
wunderte nicht blos den einen Mann, sondern die ganze Nation. In der
Geschichte deS Tages sah er, wie er ein Vierteljahr spater schreibt, den über¬
zeugenden Beweis davon, „daß Bildung über Roheit und der Geist über
geistlosen Verstand und Klügelei den Sieg davonträgt." Wie ich schou früher
that," so fügte er jenen Aeußerungen in dem Briefe an Niethammer hinzu,
„so wünschen nun alle der französischen Armee Glück, was ihr bei dem ganz
ungeheuren Unterschiede ihrer Anführer und des gemeinen Soldaten von
ihren Feinden auch gar nicht fehlen kann. So wird unsere Gegend von
diesem Schwall bald befreit werden."

ES ist gleich schmerzlich, diese scrnpellvs kalten Worte zu referiren, wie
sie zu beurtheilen und zu erklären. Denn ohne Zweifel, eS wäre im höchsten
Grade unbillig, Hegel allein und persönlich für ihre Schmach verantwortlich
zu machen. Als der Angehörige eines kleinen und despotisch regierten
deutschen Staates hatte er zwar lebhaft die Sehnsucht, aber niemals die Be¬
friedigung empfunden, einem großen gemeinsamen Vaterlande anzugehören.
Der Verfall des deutschen Reiches schrieb sich nicht erst von heule und
gestern her, und die Deutschen hatten aufgehört, staatlich verbunden zu sein,
ehe Napoleons Hand die morschen Bande vollends in Stücke riß. Niemand
hatte hierüber eine klarere Einsicht, niemand hatte diese Zustände, niemand
auch die damit zusammenhängende „Verschlossenheit und Dumpfheit" der
Deutschen und ihre „Trägheit gegen die Wirklichkeit" treffender charakterisirt
als Hegel. Zu der Schrift über die Verfassung Deutschlands finde» sich in
seinem jenenser Wastebook zahlreiche ergänzende Glossen. Allein seine Ein¬
sicht war eben Einsicht geblieben und seine Kritik stand mitten in dem Elemente,
welches sie kritisirte. Die Bemerkungen, die er über den Charakter der Deutschen


Greiizbott». IV. 1867. 12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0097" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104832"/>
          <p xml:id="ID_290" prev="#ID_289"> dem absoluten Wissen neugeboren, der Geist in seinem eigenen reinen Aether<lb/>
sich zu vollendeter Gestaltung bereite? Die Briefe an Niethammer, mit denen<lb/>
Hegel seine Manuscriplsendungen begleitete, drückten &#x2014; um die Worte seines<lb/>
Biographen zu brauchen &#x2014; seine &#x201E;grenzenlose Besorgnis)" über den möglichen<lb/>
Untergang seiner mühsamen Arbeit aus. Einer dieser Briefe trägt das Datum<lb/>
des Tages vor der Entscheidungsschlacht. Es war der Tag, an welchem der<lb/>
Usurpator in den Mauern von Jena eingetroffen war. 'Er hatte ihn gesehen,<lb/>
den Mann, welcher seinem Vaterlande dasselbe Schicksal brachte wie Philipp<lb/>
Von Macedonien den Griechen. Ich habe, schrieb Hegel, den Kaiser, &#x201E;diese<lb/>
Weltseele", gesehen. Es ist in der That eine wunderbare Empfindung, ein<lb/>
solches Individuum zu sehen, das hier, auf einen Punkt concentrirt, auf<lb/>
einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. Den<lb/>
Preußen war freilich kein besseres Prognostikon zu stellen &#x2014; aber von<lb/>
Donnerstag bis Montag sind solche Fortschritte nur diesem außerordentlichen<lb/>
Manne möglich, den es nicht möglich ist, nicht zu, bewundern." Und er be¬<lb/>
wunderte nicht blos den einen Mann, sondern die ganze Nation. In der<lb/>
Geschichte deS Tages sah er, wie er ein Vierteljahr spater schreibt, den über¬<lb/>
zeugenden Beweis davon, &#x201E;daß Bildung über Roheit und der Geist über<lb/>
geistlosen Verstand und Klügelei den Sieg davonträgt." Wie ich schou früher<lb/>
that," so fügte er jenen Aeußerungen in dem Briefe an Niethammer hinzu,<lb/>
&#x201E;so wünschen nun alle der französischen Armee Glück, was ihr bei dem ganz<lb/>
ungeheuren Unterschiede ihrer Anführer und des gemeinen Soldaten von<lb/>
ihren Feinden auch gar nicht fehlen kann. So wird unsere Gegend von<lb/>
diesem Schwall bald befreit werden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_291" next="#ID_292"> ES ist gleich schmerzlich, diese scrnpellvs kalten Worte zu referiren, wie<lb/>
sie zu beurtheilen und zu erklären. Denn ohne Zweifel, eS wäre im höchsten<lb/>
Grade unbillig, Hegel allein und persönlich für ihre Schmach verantwortlich<lb/>
zu machen. Als der Angehörige eines kleinen und despotisch regierten<lb/>
deutschen Staates hatte er zwar lebhaft die Sehnsucht, aber niemals die Be¬<lb/>
friedigung empfunden, einem großen gemeinsamen Vaterlande anzugehören.<lb/>
Der Verfall des deutschen Reiches schrieb sich nicht erst von heule und<lb/>
gestern her, und die Deutschen hatten aufgehört, staatlich verbunden zu sein,<lb/>
ehe Napoleons Hand die morschen Bande vollends in Stücke riß. Niemand<lb/>
hatte hierüber eine klarere Einsicht, niemand hatte diese Zustände, niemand<lb/>
auch die damit zusammenhängende &#x201E;Verschlossenheit und Dumpfheit" der<lb/>
Deutschen und ihre &#x201E;Trägheit gegen die Wirklichkeit" treffender charakterisirt<lb/>
als Hegel. Zu der Schrift über die Verfassung Deutschlands finde» sich in<lb/>
seinem jenenser Wastebook zahlreiche ergänzende Glossen. Allein seine Ein¬<lb/>
sicht war eben Einsicht geblieben und seine Kritik stand mitten in dem Elemente,<lb/>
welches sie kritisirte. Die Bemerkungen, die er über den Charakter der Deutschen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Greiizbott». IV. 1867. 12</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0097] dem absoluten Wissen neugeboren, der Geist in seinem eigenen reinen Aether sich zu vollendeter Gestaltung bereite? Die Briefe an Niethammer, mit denen Hegel seine Manuscriplsendungen begleitete, drückten — um die Worte seines Biographen zu brauchen — seine „grenzenlose Besorgnis)" über den möglichen Untergang seiner mühsamen Arbeit aus. Einer dieser Briefe trägt das Datum des Tages vor der Entscheidungsschlacht. Es war der Tag, an welchem der Usurpator in den Mauern von Jena eingetroffen war. 'Er hatte ihn gesehen, den Mann, welcher seinem Vaterlande dasselbe Schicksal brachte wie Philipp Von Macedonien den Griechen. Ich habe, schrieb Hegel, den Kaiser, „diese Weltseele", gesehen. Es ist in der That eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier, auf einen Punkt concentrirt, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. Den Preußen war freilich kein besseres Prognostikon zu stellen — aber von Donnerstag bis Montag sind solche Fortschritte nur diesem außerordentlichen Manne möglich, den es nicht möglich ist, nicht zu, bewundern." Und er be¬ wunderte nicht blos den einen Mann, sondern die ganze Nation. In der Geschichte deS Tages sah er, wie er ein Vierteljahr spater schreibt, den über¬ zeugenden Beweis davon, „daß Bildung über Roheit und der Geist über geistlosen Verstand und Klügelei den Sieg davonträgt." Wie ich schou früher that," so fügte er jenen Aeußerungen in dem Briefe an Niethammer hinzu, „so wünschen nun alle der französischen Armee Glück, was ihr bei dem ganz ungeheuren Unterschiede ihrer Anführer und des gemeinen Soldaten von ihren Feinden auch gar nicht fehlen kann. So wird unsere Gegend von diesem Schwall bald befreit werden." ES ist gleich schmerzlich, diese scrnpellvs kalten Worte zu referiren, wie sie zu beurtheilen und zu erklären. Denn ohne Zweifel, eS wäre im höchsten Grade unbillig, Hegel allein und persönlich für ihre Schmach verantwortlich zu machen. Als der Angehörige eines kleinen und despotisch regierten deutschen Staates hatte er zwar lebhaft die Sehnsucht, aber niemals die Be¬ friedigung empfunden, einem großen gemeinsamen Vaterlande anzugehören. Der Verfall des deutschen Reiches schrieb sich nicht erst von heule und gestern her, und die Deutschen hatten aufgehört, staatlich verbunden zu sein, ehe Napoleons Hand die morschen Bande vollends in Stücke riß. Niemand hatte hierüber eine klarere Einsicht, niemand hatte diese Zustände, niemand auch die damit zusammenhängende „Verschlossenheit und Dumpfheit" der Deutschen und ihre „Trägheit gegen die Wirklichkeit" treffender charakterisirt als Hegel. Zu der Schrift über die Verfassung Deutschlands finde» sich in seinem jenenser Wastebook zahlreiche ergänzende Glossen. Allein seine Ein¬ sicht war eben Einsicht geblieben und seine Kritik stand mitten in dem Elemente, welches sie kritisirte. Die Bemerkungen, die er über den Charakter der Deutschen Greiizbott». IV. 1867. 12

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/97
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/97>, abgerufen am 23.07.2024.