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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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anderer Uebelstände daran. Aus dem herrschenden Geist der Berechnung gehn
zwar zahlreiche Associationen zu bestimmten Zwecken hervor, aber in geistiger
Beziehung isolirt er die Menschen, er schwächt jene Naturkraft deS Instincts
und der Leidenschaft im Volk, die doch allein im Stande ist, große Thaten
und würdige Zustände hervorzubringen.

In diesem Sinn begrüßen wir es jedes Mal als einen realen Gewinn
unserer Cultur, wenn ein Schriftsteller trotz der allgemeinen Blasirtheit es
unternimmt, die Aufmerksamkeit deS Volkes auf die eigentliche Politik zu len¬
ken, auch in dem Fall, daß er eine der unsrigen entgegengesetzte Ueberzeugung
vertritt. Freilich wird diese Politik immer den Charakter der Idealität anneh¬
men, sie wird etwas Resignirtes, etwas Unbestimmtes haben, da im Grunde
jede Partei sich sagen muß, daß der Augenblick sür sie noch nicht gekommen
ist. Cs ist das aber kein Unglück. Wenn man früher zu idealistisch war, so
unterschätzt man heute den Idealismus, der doch in bedeutenden Perioden
immer einer der Hauptsactoren der Geschichte bleibt. Wenn auch die gerecht¬
fertigten Wünsche, Jnstincte und Ideale des- Volkes heute nur eine sehr ge¬
ringe Aussicht haben sich zu realistren, so müssen sie doch auf das sorgfäl¬
tigste gepflegt werden, um sich endlich zu einer wirklichen Macht zu erheben.
ES war eine der verhängmßvollsten Illusionen des Jahres 1848, daß man
annahm, der Jnstinct des Volkes, die Sehnsucht nach einer nationalen Ein¬
heit sei bereits eine Macht; er war damals nur noch ein ganz unbestimmtes
Gefühl in einer nicht zu zahlreichen Classe des Volkes; wir haben die Auf¬
gabe, durch die Erfahrungen der letzten Jahre aufgeklärt, ihn zu läutern und
ihn in immer weiteren Kreisen auszubreiten.

Der soeben erschienene zweite Band aus dem Leben Friedrich Gagerns,
des bedeutendsten unter den Männern, die unsere Ansicht von der Art und
Weise, das deutsche Nationalgefühl zu verwirklichen, vertraten, wird uns Gelegen¬
heit geben, auf die Ueberzeugungen der Bildungsschicht zurückzukommen, der
wir heute "och ebenso angehören wie 1848, die wir aber nicht mehr mit dem
Namen einer Partei bezeichnen mochten. Für heute müssen wir uns mit einem
Gegner beschäftigen, bei dem wir trotz aller Ausstellungen lobend anerkennen,
daß er sich durch keine Schwierigkeit abhalten läßt, für die Ideen der Politik
Propaganda zu machen. Seine Idee von der Einheit Deutschlands ist, oder
scheint eine andere zu sein als die unsrige, aber insofern er immer wieder
von Neuem die Aufmerksamkeit des Publicums darauf hinlenkt, gehn wir mit
ihm Hand in Hand.

Hr- Diezel hat in seinen politischen Ueberzeugungen bereits viele starke
Wandlungen durchgemacht, und man kann vielleicht ohne Uebertreibung behaup¬
ten, daß von all seinen Ansichten nur eine dem Wechsel der Zeilen Trotz
geboten hat, die Antipathie gegen die Gothaer, die mehr eine Antipathie des


anderer Uebelstände daran. Aus dem herrschenden Geist der Berechnung gehn
zwar zahlreiche Associationen zu bestimmten Zwecken hervor, aber in geistiger
Beziehung isolirt er die Menschen, er schwächt jene Naturkraft deS Instincts
und der Leidenschaft im Volk, die doch allein im Stande ist, große Thaten
und würdige Zustände hervorzubringen.

In diesem Sinn begrüßen wir es jedes Mal als einen realen Gewinn
unserer Cultur, wenn ein Schriftsteller trotz der allgemeinen Blasirtheit es
unternimmt, die Aufmerksamkeit deS Volkes auf die eigentliche Politik zu len¬
ken, auch in dem Fall, daß er eine der unsrigen entgegengesetzte Ueberzeugung
vertritt. Freilich wird diese Politik immer den Charakter der Idealität anneh¬
men, sie wird etwas Resignirtes, etwas Unbestimmtes haben, da im Grunde
jede Partei sich sagen muß, daß der Augenblick sür sie noch nicht gekommen
ist. Cs ist das aber kein Unglück. Wenn man früher zu idealistisch war, so
unterschätzt man heute den Idealismus, der doch in bedeutenden Perioden
immer einer der Hauptsactoren der Geschichte bleibt. Wenn auch die gerecht¬
fertigten Wünsche, Jnstincte und Ideale des- Volkes heute nur eine sehr ge¬
ringe Aussicht haben sich zu realistren, so müssen sie doch auf das sorgfäl¬
tigste gepflegt werden, um sich endlich zu einer wirklichen Macht zu erheben.
ES war eine der verhängmßvollsten Illusionen des Jahres 1848, daß man
annahm, der Jnstinct des Volkes, die Sehnsucht nach einer nationalen Ein¬
heit sei bereits eine Macht; er war damals nur noch ein ganz unbestimmtes
Gefühl in einer nicht zu zahlreichen Classe des Volkes; wir haben die Auf¬
gabe, durch die Erfahrungen der letzten Jahre aufgeklärt, ihn zu läutern und
ihn in immer weiteren Kreisen auszubreiten.

Der soeben erschienene zweite Band aus dem Leben Friedrich Gagerns,
des bedeutendsten unter den Männern, die unsere Ansicht von der Art und
Weise, das deutsche Nationalgefühl zu verwirklichen, vertraten, wird uns Gelegen¬
heit geben, auf die Ueberzeugungen der Bildungsschicht zurückzukommen, der
wir heute »och ebenso angehören wie 1848, die wir aber nicht mehr mit dem
Namen einer Partei bezeichnen mochten. Für heute müssen wir uns mit einem
Gegner beschäftigen, bei dem wir trotz aller Ausstellungen lobend anerkennen,
daß er sich durch keine Schwierigkeit abhalten läßt, für die Ideen der Politik
Propaganda zu machen. Seine Idee von der Einheit Deutschlands ist, oder
scheint eine andere zu sein als die unsrige, aber insofern er immer wieder
von Neuem die Aufmerksamkeit des Publicums darauf hinlenkt, gehn wir mit
ihm Hand in Hand.

Hr- Diezel hat in seinen politischen Ueberzeugungen bereits viele starke
Wandlungen durchgemacht, und man kann vielleicht ohne Uebertreibung behaup¬
ten, daß von all seinen Ansichten nur eine dem Wechsel der Zeilen Trotz
geboten hat, die Antipathie gegen die Gothaer, die mehr eine Antipathie des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/53>, abgerufen am 23.07.2024.