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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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licher Bestimmung beruhendes Tauschmittel ist, namentlich das fast allein herr¬
schende Papiergeld. Wenn man von Leipzig nach Halle fährt, trägt die
Eisenbahn Bedenken, einen preußischen Thalerschein anzunehmen, wenn man
von Halle nach Leipzig fährt, weist die Eisenbahn entschieden den sächsischen
Thalerschein zurück. Wenn man sich in Kassel auf die Eisenbahn setzt, werden
nur dessen-kasselsche Scheine angenommen, und löst man sich zu diesem Zweck
dessen-kasfelsche Scheine ein, so würde man auf dem ganzen Erdenrund ver¬
gebens nach einem Orte .suchen, wo man sie wieder anbringen könnte. Aller
Orten erheben sich Creditinstitute, die fabelhafte Procente verheißen, man legt
sein Vermögen darin an, und in kurzer Zeit erfährt man zu seinem Erstaunen,
daß man einen großen Theil desselben eingebüßt hat. Unter diesen Umständen
ist es eine große Thvtheit, über das Umsichgreifen des Materialismus zu
klagen. Wie die Sachen heute stehen, ist es nicht blos die Habsucht, nicht
blos der dämonische Trieb des Hasardspiels, der das Publicum in die Börse
führt, sondern die Nothwendigkeit des Lebens; nicht um einen raschen schwin¬
delnden Erwerb zu machen, sondern um zu eristiren, ist jeder Einzelne genöthigt,
sich die nationalökonomischen Beguffe, die Begriffe des Verkehrs und seiner
Organisation klar zu mache"; er ist nicht nur versucht, sondern bis zum ge¬
wisse" Grade verpflichtet, wen" auch nur im beschränkten Sinn ein Kaufmann
zu werden

Was unvermeidlich ist kann man nicht verdammen; ja es lassen sich
Gründe anführen, in dieser Abwendung von der abstracten Politik zu den con-
creten Fragen des Lebens einen Fortschritt zu begrüßen. Unzweifelhaft haben
die Politiker der vorigen Generation den Fehler begangen, diese wichtigen
Lebensfragen zu wenig zu beachten. Nur dasjenige Volk wird eine gesunde
Politik verfolgen, welches in den praktischen materiellen Interessen eine solide
Basis gewonnen hat. Diejenigen Völker, welche nur Politik treiben und sich
in ihren Interessen von der Stimmung des Augenblicks leiten lassen, gehen
von einem Extrem ins andere über und kommen nie so weit, mit zäher Aus¬
dauer einen Plan zu verfolgen, dessen Tragweite über den Augenblick hin¬
ausgeht.

Aber jetzt sind wir freilich in der größten Gefahr, in daS entgegengesetzte
Ertrem zu gerathen. Wir sind so tief in die Berechnung der Zinsen und
Procente verstrickt, daß wir allen andern Angelegenheiten des Lebens nur eine
flüchtige Aufmerksamkeit zuwenden. Indem man immer nüchterner und ver¬
ständiger wird, lenkt der schöpferische Trieb der Nation in immer einseitigere
Bahnen, und die schönsten Gaben des Geistes verkümmern aus Mangel an
Nahrung. Daß die Kunst im schnellen Sinken ist, darüber kann sich niemand
mehr täuschen, und wenn man sich auch damit trösten mag, daß Perioden des
Stillstands zu allen Zeiten vorkommen, so hängen sich doch noch eine Menge


licher Bestimmung beruhendes Tauschmittel ist, namentlich das fast allein herr¬
schende Papiergeld. Wenn man von Leipzig nach Halle fährt, trägt die
Eisenbahn Bedenken, einen preußischen Thalerschein anzunehmen, wenn man
von Halle nach Leipzig fährt, weist die Eisenbahn entschieden den sächsischen
Thalerschein zurück. Wenn man sich in Kassel auf die Eisenbahn setzt, werden
nur dessen-kasselsche Scheine angenommen, und löst man sich zu diesem Zweck
dessen-kasfelsche Scheine ein, so würde man auf dem ganzen Erdenrund ver¬
gebens nach einem Orte .suchen, wo man sie wieder anbringen könnte. Aller
Orten erheben sich Creditinstitute, die fabelhafte Procente verheißen, man legt
sein Vermögen darin an, und in kurzer Zeit erfährt man zu seinem Erstaunen,
daß man einen großen Theil desselben eingebüßt hat. Unter diesen Umständen
ist es eine große Thvtheit, über das Umsichgreifen des Materialismus zu
klagen. Wie die Sachen heute stehen, ist es nicht blos die Habsucht, nicht
blos der dämonische Trieb des Hasardspiels, der das Publicum in die Börse
führt, sondern die Nothwendigkeit des Lebens; nicht um einen raschen schwin¬
delnden Erwerb zu machen, sondern um zu eristiren, ist jeder Einzelne genöthigt,
sich die nationalökonomischen Beguffe, die Begriffe des Verkehrs und seiner
Organisation klar zu mache»; er ist nicht nur versucht, sondern bis zum ge¬
wisse» Grade verpflichtet, wen» auch nur im beschränkten Sinn ein Kaufmann
zu werden

Was unvermeidlich ist kann man nicht verdammen; ja es lassen sich
Gründe anführen, in dieser Abwendung von der abstracten Politik zu den con-
creten Fragen des Lebens einen Fortschritt zu begrüßen. Unzweifelhaft haben
die Politiker der vorigen Generation den Fehler begangen, diese wichtigen
Lebensfragen zu wenig zu beachten. Nur dasjenige Volk wird eine gesunde
Politik verfolgen, welches in den praktischen materiellen Interessen eine solide
Basis gewonnen hat. Diejenigen Völker, welche nur Politik treiben und sich
in ihren Interessen von der Stimmung des Augenblicks leiten lassen, gehen
von einem Extrem ins andere über und kommen nie so weit, mit zäher Aus¬
dauer einen Plan zu verfolgen, dessen Tragweite über den Augenblick hin¬
ausgeht.

Aber jetzt sind wir freilich in der größten Gefahr, in daS entgegengesetzte
Ertrem zu gerathen. Wir sind so tief in die Berechnung der Zinsen und
Procente verstrickt, daß wir allen andern Angelegenheiten des Lebens nur eine
flüchtige Aufmerksamkeit zuwenden. Indem man immer nüchterner und ver¬
ständiger wird, lenkt der schöpferische Trieb der Nation in immer einseitigere
Bahnen, und die schönsten Gaben des Geistes verkümmern aus Mangel an
Nahrung. Daß die Kunst im schnellen Sinken ist, darüber kann sich niemand
mehr täuschen, und wenn man sich auch damit trösten mag, daß Perioden des
Stillstands zu allen Zeiten vorkommen, so hängen sich doch noch eine Menge


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/52>, abgerufen am 23.07.2024.