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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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die bei dem Studenten nie ausbleibt, wenn er fühlt, daß man ihn mit wahrer"
Achtung behandelt; daß man ihm zutraut, über ernste Dinge ernst zu denken
und zu empfinden.

Diese Mißgriffe liegen bei Erdmann nicht in einem Irrthum deö Ver¬
standes, sondern in der subjectiven Richtung seiner Natur. Er ist nicht im
Stande, sich ganz in die Sache zu vertiefen, der Eindruck, den seine Persön¬
lichkeit macht, ist ihm viel wichtiger. Man begreift diese Neigung, wenn mau
seine vielen brillanten Einfälle in Erwägung zieht, aber grade hier war es
nöthig, ihr Widerstand zu leisten.

Denkt man sich nun diese Auswüchse abgeschnitten, so bleibt viel Vor¬
treffliches übrig. In dem theoretischen Theil seiner Vorlesungen gibt Erdmann
eine Art Encyklopädie der Wissenschaften nach dem Vorbild Hegels, den er
beiläufig mit ehrenwerther Consegnenz als seinen Meister festhält. Gegen das
Einzelne wären sehr erhebliche Einwände zu machen: so ist ;. B. das Ver¬
hältniß zwischen Wahrheit und Wirklichkeit zwar äußerst populär, ajier nichts
weniger als speculativ behandelt. Allein der allgemeine Gang ist interessant-
und zur vorläufigen Orientirung gewiß sehr lehrreich. Noch viel bessere Bemer¬
kungen finden sich über das sociale Leben der Universität. Erdmann erläutert
die verschiedenen Institutionen derselben, die Verbindungen, die Duelle, das
Reisen und die ritterlichen Hebungen der Studirenden vom Standpunkt eines
gebildeten Mannes, der zwischen Ernst und Scherz sehr wohl zu unterscheiden
weiß. Eine andere Frage ist freilich, ob der Student in der Naivetät seines
Burschenthums gefördert wird, wenn man ihn lehrt, über sein eignes Treiben
so verständig zu reflectiren, als Erdmann reflectirt, alö alle mit ihm reflectiren,
die über die NinversttätSjahre hinaus sind. Wenn man den allgemein mensch¬
lichen Sinn des Spiels durchschaut, wird man sich in das Spiel kaum mehr
einlassen können, und der Student, der dahinter gekommen ist, worin der wahre
Nutzen der Corps, der Burschenschafteu, der Duelle u. s. w. liegt, wird kaum
mehr Corpöbursch werden, kaizm mehr auf die Mensur gehn wollen. Indeß ist
das nich) gegen Erdmann gesprochen; wenn er einmal über diese Dinge reflec¬
tiren wollte, so konnte eS nicht anders geschehn, als er es hier gethan hat.
Bedenklicher sind seine Ideen über das wirkliche, das bürgerliche und politische
Leben. "

Wenn man Erdmann gewöhnlich einen Reactionär nennt, so müssen wir
ihn gegen diesen Vorwurf entschieden in Schutz nehmen. Sein Standpunkt
ist vielmehr der deS Liberalismus im guten wie im schlechten Sinn.

Der Liberalismus ist die Abneigung gegen äußere Schranken und äußere
Autorität, das strebten nach individueller Ungenirtheit in Staat, Kirche und
Gesellschaft. Dieses Streben, welches Fichte in seinen "Grundzügen des gegen¬
wärtigen Zeitalters" mit dem Namen der leeren Freiheit charakterisirt, fin-


Grenzdett". IV. I8ö7.

die bei dem Studenten nie ausbleibt, wenn er fühlt, daß man ihn mit wahrer«
Achtung behandelt; daß man ihm zutraut, über ernste Dinge ernst zu denken
und zu empfinden.

Diese Mißgriffe liegen bei Erdmann nicht in einem Irrthum deö Ver¬
standes, sondern in der subjectiven Richtung seiner Natur. Er ist nicht im
Stande, sich ganz in die Sache zu vertiefen, der Eindruck, den seine Persön¬
lichkeit macht, ist ihm viel wichtiger. Man begreift diese Neigung, wenn mau
seine vielen brillanten Einfälle in Erwägung zieht, aber grade hier war es
nöthig, ihr Widerstand zu leisten.

Denkt man sich nun diese Auswüchse abgeschnitten, so bleibt viel Vor¬
treffliches übrig. In dem theoretischen Theil seiner Vorlesungen gibt Erdmann
eine Art Encyklopädie der Wissenschaften nach dem Vorbild Hegels, den er
beiläufig mit ehrenwerther Consegnenz als seinen Meister festhält. Gegen das
Einzelne wären sehr erhebliche Einwände zu machen: so ist ;. B. das Ver¬
hältniß zwischen Wahrheit und Wirklichkeit zwar äußerst populär, ajier nichts
weniger als speculativ behandelt. Allein der allgemeine Gang ist interessant-
und zur vorläufigen Orientirung gewiß sehr lehrreich. Noch viel bessere Bemer¬
kungen finden sich über das sociale Leben der Universität. Erdmann erläutert
die verschiedenen Institutionen derselben, die Verbindungen, die Duelle, das
Reisen und die ritterlichen Hebungen der Studirenden vom Standpunkt eines
gebildeten Mannes, der zwischen Ernst und Scherz sehr wohl zu unterscheiden
weiß. Eine andere Frage ist freilich, ob der Student in der Naivetät seines
Burschenthums gefördert wird, wenn man ihn lehrt, über sein eignes Treiben
so verständig zu reflectiren, als Erdmann reflectirt, alö alle mit ihm reflectiren,
die über die NinversttätSjahre hinaus sind. Wenn man den allgemein mensch¬
lichen Sinn des Spiels durchschaut, wird man sich in das Spiel kaum mehr
einlassen können, und der Student, der dahinter gekommen ist, worin der wahre
Nutzen der Corps, der Burschenschafteu, der Duelle u. s. w. liegt, wird kaum
mehr Corpöbursch werden, kaizm mehr auf die Mensur gehn wollen. Indeß ist
das nich) gegen Erdmann gesprochen; wenn er einmal über diese Dinge reflec¬
tiren wollte, so konnte eS nicht anders geschehn, als er es hier gethan hat.
Bedenklicher sind seine Ideen über das wirkliche, das bürgerliche und politische
Leben. «

Wenn man Erdmann gewöhnlich einen Reactionär nennt, so müssen wir
ihn gegen diesen Vorwurf entschieden in Schutz nehmen. Sein Standpunkt
ist vielmehr der deS Liberalismus im guten wie im schlechten Sinn.

Der Liberalismus ist die Abneigung gegen äußere Schranken und äußere
Autorität, das strebten nach individueller Ungenirtheit in Staat, Kirche und
Gesellschaft. Dieses Streben, welches Fichte in seinen „Grundzügen des gegen¬
wärtigen Zeitalters" mit dem Namen der leeren Freiheit charakterisirt, fin-


Grenzdett». IV. I8ö7.
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[0513] die bei dem Studenten nie ausbleibt, wenn er fühlt, daß man ihn mit wahrer« Achtung behandelt; daß man ihm zutraut, über ernste Dinge ernst zu denken und zu empfinden. Diese Mißgriffe liegen bei Erdmann nicht in einem Irrthum deö Ver¬ standes, sondern in der subjectiven Richtung seiner Natur. Er ist nicht im Stande, sich ganz in die Sache zu vertiefen, der Eindruck, den seine Persön¬ lichkeit macht, ist ihm viel wichtiger. Man begreift diese Neigung, wenn mau seine vielen brillanten Einfälle in Erwägung zieht, aber grade hier war es nöthig, ihr Widerstand zu leisten. Denkt man sich nun diese Auswüchse abgeschnitten, so bleibt viel Vor¬ treffliches übrig. In dem theoretischen Theil seiner Vorlesungen gibt Erdmann eine Art Encyklopädie der Wissenschaften nach dem Vorbild Hegels, den er beiläufig mit ehrenwerther Consegnenz als seinen Meister festhält. Gegen das Einzelne wären sehr erhebliche Einwände zu machen: so ist ;. B. das Ver¬ hältniß zwischen Wahrheit und Wirklichkeit zwar äußerst populär, ajier nichts weniger als speculativ behandelt. Allein der allgemeine Gang ist interessant- und zur vorläufigen Orientirung gewiß sehr lehrreich. Noch viel bessere Bemer¬ kungen finden sich über das sociale Leben der Universität. Erdmann erläutert die verschiedenen Institutionen derselben, die Verbindungen, die Duelle, das Reisen und die ritterlichen Hebungen der Studirenden vom Standpunkt eines gebildeten Mannes, der zwischen Ernst und Scherz sehr wohl zu unterscheiden weiß. Eine andere Frage ist freilich, ob der Student in der Naivetät seines Burschenthums gefördert wird, wenn man ihn lehrt, über sein eignes Treiben so verständig zu reflectiren, als Erdmann reflectirt, alö alle mit ihm reflectiren, die über die NinversttätSjahre hinaus sind. Wenn man den allgemein mensch¬ lichen Sinn des Spiels durchschaut, wird man sich in das Spiel kaum mehr einlassen können, und der Student, der dahinter gekommen ist, worin der wahre Nutzen der Corps, der Burschenschafteu, der Duelle u. s. w. liegt, wird kaum mehr Corpöbursch werden, kaizm mehr auf die Mensur gehn wollen. Indeß ist das nich) gegen Erdmann gesprochen; wenn er einmal über diese Dinge reflec¬ tiren wollte, so konnte eS nicht anders geschehn, als er es hier gethan hat. Bedenklicher sind seine Ideen über das wirkliche, das bürgerliche und politische Leben. « Wenn man Erdmann gewöhnlich einen Reactionär nennt, so müssen wir ihn gegen diesen Vorwurf entschieden in Schutz nehmen. Sein Standpunkt ist vielmehr der deS Liberalismus im guten wie im schlechten Sinn. Der Liberalismus ist die Abneigung gegen äußere Schranken und äußere Autorität, das strebten nach individueller Ungenirtheit in Staat, Kirche und Gesellschaft. Dieses Streben, welches Fichte in seinen „Grundzügen des gegen¬ wärtigen Zeitalters" mit dem Namen der leeren Freiheit charakterisirt, fin- Grenzdett». IV. I8ö7.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/513>, abgerufen am 23.07.2024.