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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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alles, was sonst nur vermittelst der Arbeitstheilung gesehn wird, er sieht alles
zugleich und ist doch durch die angeborene Ordnung und Gelassenheit seines
Geistes befähigt, ein reinliches, in allen Theilen uuterscheidbareö Gemälde zu
entwerfen. Für alles was er schildern will stehn ihm die prägnantesten und
doch ungesuchten Ausdrücke zu Gebot, und er läßt sich durch die Vielseitigkeit
seiner Perspectiven niemals verleiten, die eine durch die andere zu verwirren.
Wenn sich ihm einmal zwei Gedanken aufdrängen, die gar nichts miteinander
gemein haben, so macht er mit seiner Ruhe, die ebensowol Stolz als Beschei¬
denheit ist, etwa folgenden Uebergang. "Und da ich nun von den frankfurter
Würsten gesprochen habe, so will ich einiges über die Symbolik der gothischen
Baukunst bemerken." Die Naivetät dieses Uebergangs scheint dem modernen
Reisebeschreiber unmöglich; er sucht vermittelst der hcgelschen Philosophie oder
der Romantik, oder auch der.Socialpolitik irgend ein tertium oomparationis, wo¬
durch die frankfurter Würste auf die gothische Baukunst bezogen werden, und
verfällt so durch die Ideenassociation in eine Absurdität, nur um das Einfache
und Natürliche zu vermeiden. Allmälig werden wir alle dahinter kommen,
daß die Reihenfolge eines mathematischen Lehrbuchs sich für keine andere Gat¬
tung der Schrift eignet, und daß, wenn man im Einzelnen reinlich und correct
beschreibt, der Uebergang von einem Gegenstand auf den andern etwas Un¬
wesentliches ist.

In den Vorlesungen über akademisches Leben und Studium,
gehalten von Professor Erd manu in Halle, (Leipzig, Geibel) zeigt sich eine
auffallende Verwandtschaft mit Riehl, sowol wenn wir das Talent, als wenn
wir den Charakter der beiden Männer ins Auge fasse". Wenn im Allgemei¬
nen der Hallesche Professor einen viel weniger erfreulichen Eindruck macht, so
liegt das vielleicht zum Theil in der Verschiedenheit der Umgebungen, die doch
immer dem Schriftsteller ein anderes Relief geben. Ueber ErdmanuS literari-
schen Charakter konnte man sich zwar aus seinen Vorlesungen über Glauben
und Wissen 1837, über den. Staat 1831, so wie aus seinen psychologischen
Briefen ein ziemlich vollständiges Gemälde entwerfen; aber dies Gemälde wird
durch daS neue Werk in manchen bedeutenoen Punkten ergänzt, weil es seiner
Natur nach mehr als die frühern dem Verfasser Gelegenheit gibt, mit seiner
ganzen Persönlichkeit für seine Ansichten einzutreten. Grade dieser Umstand
führt bei der Besprechung des Buchs seine Bedenken mit sich. Das Verhält¬
niß de5 akademischen Lehrers zu den Studirenden gehört zu den zartesten, und
schließt eigentlich die Oeffentlichkeit aus. Wir meinen nicht die rein theoretischen
Vorlesungen, die entweder auf ein erweitertes, tiefer begründetes Compendium
herauskommen, oder durch neue Forschungen und Gesichtspunkte in den Kreis
der eigentlichen Literatur eintreten, sondern die eigentlichen Functionen des Lehrers,
die Berührungspunkte zwischen JudividualiM und Individualität, deren Be-


alles, was sonst nur vermittelst der Arbeitstheilung gesehn wird, er sieht alles
zugleich und ist doch durch die angeborene Ordnung und Gelassenheit seines
Geistes befähigt, ein reinliches, in allen Theilen uuterscheidbareö Gemälde zu
entwerfen. Für alles was er schildern will stehn ihm die prägnantesten und
doch ungesuchten Ausdrücke zu Gebot, und er läßt sich durch die Vielseitigkeit
seiner Perspectiven niemals verleiten, die eine durch die andere zu verwirren.
Wenn sich ihm einmal zwei Gedanken aufdrängen, die gar nichts miteinander
gemein haben, so macht er mit seiner Ruhe, die ebensowol Stolz als Beschei¬
denheit ist, etwa folgenden Uebergang. „Und da ich nun von den frankfurter
Würsten gesprochen habe, so will ich einiges über die Symbolik der gothischen
Baukunst bemerken." Die Naivetät dieses Uebergangs scheint dem modernen
Reisebeschreiber unmöglich; er sucht vermittelst der hcgelschen Philosophie oder
der Romantik, oder auch der.Socialpolitik irgend ein tertium oomparationis, wo¬
durch die frankfurter Würste auf die gothische Baukunst bezogen werden, und
verfällt so durch die Ideenassociation in eine Absurdität, nur um das Einfache
und Natürliche zu vermeiden. Allmälig werden wir alle dahinter kommen,
daß die Reihenfolge eines mathematischen Lehrbuchs sich für keine andere Gat¬
tung der Schrift eignet, und daß, wenn man im Einzelnen reinlich und correct
beschreibt, der Uebergang von einem Gegenstand auf den andern etwas Un¬
wesentliches ist.

In den Vorlesungen über akademisches Leben und Studium,
gehalten von Professor Erd manu in Halle, (Leipzig, Geibel) zeigt sich eine
auffallende Verwandtschaft mit Riehl, sowol wenn wir das Talent, als wenn
wir den Charakter der beiden Männer ins Auge fasse«. Wenn im Allgemei¬
nen der Hallesche Professor einen viel weniger erfreulichen Eindruck macht, so
liegt das vielleicht zum Theil in der Verschiedenheit der Umgebungen, die doch
immer dem Schriftsteller ein anderes Relief geben. Ueber ErdmanuS literari-
schen Charakter konnte man sich zwar aus seinen Vorlesungen über Glauben
und Wissen 1837, über den. Staat 1831, so wie aus seinen psychologischen
Briefen ein ziemlich vollständiges Gemälde entwerfen; aber dies Gemälde wird
durch daS neue Werk in manchen bedeutenoen Punkten ergänzt, weil es seiner
Natur nach mehr als die frühern dem Verfasser Gelegenheit gibt, mit seiner
ganzen Persönlichkeit für seine Ansichten einzutreten. Grade dieser Umstand
führt bei der Besprechung des Buchs seine Bedenken mit sich. Das Verhält¬
niß de5 akademischen Lehrers zu den Studirenden gehört zu den zartesten, und
schließt eigentlich die Oeffentlichkeit aus. Wir meinen nicht die rein theoretischen
Vorlesungen, die entweder auf ein erweitertes, tiefer begründetes Compendium
herauskommen, oder durch neue Forschungen und Gesichtspunkte in den Kreis
der eigentlichen Literatur eintreten, sondern die eigentlichen Functionen des Lehrers,
die Berührungspunkte zwischen JudividualiM und Individualität, deren Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/511>, abgerufen am 23.07.2024.