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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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gestörten Besitz ihrer Freiheit gegenüber den Vorschlägen des Ministeriums
und den Rathschlägen des Königs. Vergeblich hat man versucht, aus der
Verschiebung der parlamentarischen Entscheidung eine Anklage gegen die bel¬
gischen Institutionen zu entwickeln. Sehen wir doch in Ländern von ganz
anderer politischer Verfassung die Regierung klugerweise die Entscheidung ge¬
wisser Fragen verschieben, wenn sie dieselben nicht hinreichend verstanden glaubt
und die dabei betheiligten Interessen beunruhigt werden.

Ganz dasselbe aber gilt von der Wendung, welche die Dinge nach den
Wahlen der Gemeinderäthe nahmen. Das Princip des Parlamentarismus,
nach welchem die Regierungsgewalt in den Händen der Partei sein soll, welche
in der Volksvertretung die Stimmenmehrheit hat, ist weder vom König noch-
vort dem abgetretenen Cabinet verletzt worden. Von ersterem nicht, weil er
das Ministerium nicht aus eignen Antrieb, sondern auf Verlangen sämmt¬
licher Cabineismitglieder und zwar auf wiederholtes Verlangen entließ. Aber
auch von den Ministern nicht, wenn man nicht die Form der Sache über das
Wesen stellen will. Der Zweck des ebengedachten Princips ist, daß dem auf
gesetzlichem Wege sich offenbarenden Willen des Landes Genüge geschehe, daß
ihm kein Zwang angethan werde von einer gegen ihn von der Krone beru¬
fenen Regierungsgewalt. In Belgien war die Majorität der Kammer, die
im gewöhnlichen Laufe der Dinge den Landcswillen repräsentirt, allerdings
ans Seiten des Ministeriums. Sie vertrat aber infolge des auf Grund des
WvhlthätigkcitsgesetzeS eintretenden Umschwungs der öffentlichen Meinung den
Willen des Landes nicht mehr. Die Belgier würden, so sagte sich jedermann,
falls sie jetzt zu wählen gehabt, keinen überwiegend klerikalen Kongreß ge¬
wählt haben. Die Wahlen der Gemeinderäthe zeigten deutlich, daß dies be¬
gründet war, daß die Majorität der Kammer nicht mehr die Majorität der
wahlmündigen Belgier hinter sich hatte. Auf jene Majorität gestützt fort regie¬
ren hätte aber die Form über das Wesen stellen heißen. Das Cabinet zog
sich zurück, und die neuen Wahlen werden allem Anschein nach erweisen, daß
es bei diesem Schritt durch eine vollkommen richtige Beurtheilung seiner Stel¬
lung und der Stimmung des Landes geleitet- wurde.*) Ist demnach die con-



*) Die Wahlen sind beendigt, und sie haben den Sieg der Liberalen z" einem vollstän¬
digen gemacht. Trotz aller Anstrengungen der Rechten, deren Candidaten sehr beträchtliche
Geldmittel zur Verfügung standen, wird die künftige zweite Kammer nur 38 klerikal gesinnte
Mitglieder, dagegen 70 liberale zählen. Namentlich haben die Städte sich hervergethan>
Brüssel, Antwerpen, Gent, Lüttich, Tournai, Mons, Charlervi, Ostende und einige ander"
kehrten allein schon das bisherige Stimmvcrhältniß in der Nationalvcrtrctnng um. In Brüs¬
sel war der Zudrang zu den Wahlurnen außerordentlich; von >I",3go Wahlberechtigte" hatte"
8,1 i'S ihre Stimmen abgegeben. In Nioelles hatten die Klerikalen den Exnuuistcr Mercier,
in Tournai den Vxminister Dumvn, i" Charlcroi den ^Minister Dechamps, einen ihrer beste"
Namen, alö Candidaten aufgestellt, und siehe da, alle drei Herren reisten ""gewählt "ach

gestörten Besitz ihrer Freiheit gegenüber den Vorschlägen des Ministeriums
und den Rathschlägen des Königs. Vergeblich hat man versucht, aus der
Verschiebung der parlamentarischen Entscheidung eine Anklage gegen die bel¬
gischen Institutionen zu entwickeln. Sehen wir doch in Ländern von ganz
anderer politischer Verfassung die Regierung klugerweise die Entscheidung ge¬
wisser Fragen verschieben, wenn sie dieselben nicht hinreichend verstanden glaubt
und die dabei betheiligten Interessen beunruhigt werden.

Ganz dasselbe aber gilt von der Wendung, welche die Dinge nach den
Wahlen der Gemeinderäthe nahmen. Das Princip des Parlamentarismus,
nach welchem die Regierungsgewalt in den Händen der Partei sein soll, welche
in der Volksvertretung die Stimmenmehrheit hat, ist weder vom König noch-
vort dem abgetretenen Cabinet verletzt worden. Von ersterem nicht, weil er
das Ministerium nicht aus eignen Antrieb, sondern auf Verlangen sämmt¬
licher Cabineismitglieder und zwar auf wiederholtes Verlangen entließ. Aber
auch von den Ministern nicht, wenn man nicht die Form der Sache über das
Wesen stellen will. Der Zweck des ebengedachten Princips ist, daß dem auf
gesetzlichem Wege sich offenbarenden Willen des Landes Genüge geschehe, daß
ihm kein Zwang angethan werde von einer gegen ihn von der Krone beru¬
fenen Regierungsgewalt. In Belgien war die Majorität der Kammer, die
im gewöhnlichen Laufe der Dinge den Landcswillen repräsentirt, allerdings
ans Seiten des Ministeriums. Sie vertrat aber infolge des auf Grund des
WvhlthätigkcitsgesetzeS eintretenden Umschwungs der öffentlichen Meinung den
Willen des Landes nicht mehr. Die Belgier würden, so sagte sich jedermann,
falls sie jetzt zu wählen gehabt, keinen überwiegend klerikalen Kongreß ge¬
wählt haben. Die Wahlen der Gemeinderäthe zeigten deutlich, daß dies be¬
gründet war, daß die Majorität der Kammer nicht mehr die Majorität der
wahlmündigen Belgier hinter sich hatte. Auf jene Majorität gestützt fort regie¬
ren hätte aber die Form über das Wesen stellen heißen. Das Cabinet zog
sich zurück, und die neuen Wahlen werden allem Anschein nach erweisen, daß
es bei diesem Schritt durch eine vollkommen richtige Beurtheilung seiner Stel¬
lung und der Stimmung des Landes geleitet- wurde.*) Ist demnach die con-



*) Die Wahlen sind beendigt, und sie haben den Sieg der Liberalen z» einem vollstän¬
digen gemacht. Trotz aller Anstrengungen der Rechten, deren Candidaten sehr beträchtliche
Geldmittel zur Verfügung standen, wird die künftige zweite Kammer nur 38 klerikal gesinnte
Mitglieder, dagegen 70 liberale zählen. Namentlich haben die Städte sich hervergethan>
Brüssel, Antwerpen, Gent, Lüttich, Tournai, Mons, Charlervi, Ostende und einige ander«
kehrten allein schon das bisherige Stimmvcrhältniß in der Nationalvcrtrctnng um. In Brüs¬
sel war der Zudrang zu den Wahlurnen außerordentlich; von >I»,3go Wahlberechtigte» hatte»
8,1 i'S ihre Stimmen abgegeben. In Nioelles hatten die Klerikalen den Exnuuistcr Mercier,
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Namen, alö Candidaten aufgestellt, und siehe da, alle drei Herren reisten »»gewählt »ach
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/506>, abgerufen am 23.07.2024.