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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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GesetzprojectS in sich schloß. Das Cabinet zauderte. Malon schien darauf
eingehen zu wollen, aber die Grafen de Theur und Liedekerke erklärten sich
gegen jede Transaction. Man trennte sich ohne Entscheidung und bestimmte
eine zweite Conferenz auf den nächsten Tag. Bevor diese stattfand, berieth
sich die Rechte über den einzuschlagenden Weg in einer Versammlung im Hotel
Mervde, und das Resultat war, daß die Fraktion de Theur-Liedekerke mit ihrer
Ansicht durchdrang; nur 12 Stimmen waren für den von der Linken vorge¬
schlagenen Vergleich. Die Linke erfuhr in einer Versammlung, die sie den¬
selben Abend hielt, von diesem Entschluß, und man vereinigte sich zu der
Meinung, daß bei solcher Hartnäckigkeit der Gegner nichts übrig bliebe, als
die Zurücknahme deS ganzen Gesetzentwurfs zu verlangen.

Die Parteien in der Kammer hätten damit noch einmal zum Zusammen¬
stoß kommen müssen. Da entschloß sich die Regierung, der die Nachrichten
aus den Provinzen jetzt ernstliche Besorgniß einflößten, zur Vertagung der
Kammer, die am 2. Juni vom Ministerpräsidenten verlesen wurde. Diese
vorläufige Lösung des Streites stellte die Ordnung überall wieder her. Die
Organe der Priesterpartei schmähten die Maßregel als feiges Nachgeben
gegen unberechtigte Einmischung, als Verletzung des parlamentarischen Brauchs,
ja des constitutionellen Princips. Die große Mehrzahl der Belgier war da¬
mit einverstanden. Alles harrte der Auflösung der Kammern entgegen, da
man allgemein von dem Gegensatz der Majorität der Wähler und der im Con-
greß bestehenden überzeugt war, die Ansichten und Wünsche der Gemäßigten
waren auf Rücknahme des Gesetzentwurfs und Beibehaltung der'parlamen¬
tarischen Parteiverhältnisse gerichtet. Unter solchen Erwartungen waren einige
Tage verflossen, als die Nachricht verlautete, daß in einer Privatversammlung
von katholischen Abgeordneten von den i7 Anwesenden die Wiederaufnahme
der Debatte über das Wohlthätigkeitsgesetz sür unzeitgemäß erklärt hätten.
Unter dieser Constellation war eS der Negierung gestattet, die Schließung der
Session zu decretiren, so daß sie weder zur Zurücknahme des verhaßten Gesetz¬
entwurfs noch zur Auflösung der Kammer und zur Anordnung von Neuwahlen
genöthigt war. In dem daS Decret einleitenden Bericht der Minister a" den
König rechtfertigten dieselben aufs Neue die Vorlage des Gesetzes und- dessen
Fassung, und begründeten andererseits die Maßregel der Schließung auf Rück¬
sichten der Klugheit, welche "der öffentlichen Meinung Rechnung trage, auch
wenn diese sich durch Leidenschaft oder Vorurtheil habe verfüh¬
ren lassen." Diese etwas verletzende Sprache gegen die parlamentarische
Linke und die liberale Partei überhaupt, wurde durch den Eindruck verwischt,
welchen der edle, von tiefer Einsicht und seltener Besonnenheit zeugende Brief
machte, mit dem der König, sich an den Ministerpräsidenten wendend, seinem
Cabinet in dieser Frage antwortete.


GesetzprojectS in sich schloß. Das Cabinet zauderte. Malon schien darauf
eingehen zu wollen, aber die Grafen de Theur und Liedekerke erklärten sich
gegen jede Transaction. Man trennte sich ohne Entscheidung und bestimmte
eine zweite Conferenz auf den nächsten Tag. Bevor diese stattfand, berieth
sich die Rechte über den einzuschlagenden Weg in einer Versammlung im Hotel
Mervde, und das Resultat war, daß die Fraktion de Theur-Liedekerke mit ihrer
Ansicht durchdrang; nur 12 Stimmen waren für den von der Linken vorge¬
schlagenen Vergleich. Die Linke erfuhr in einer Versammlung, die sie den¬
selben Abend hielt, von diesem Entschluß, und man vereinigte sich zu der
Meinung, daß bei solcher Hartnäckigkeit der Gegner nichts übrig bliebe, als
die Zurücknahme deS ganzen Gesetzentwurfs zu verlangen.

Die Parteien in der Kammer hätten damit noch einmal zum Zusammen¬
stoß kommen müssen. Da entschloß sich die Regierung, der die Nachrichten
aus den Provinzen jetzt ernstliche Besorgniß einflößten, zur Vertagung der
Kammer, die am 2. Juni vom Ministerpräsidenten verlesen wurde. Diese
vorläufige Lösung des Streites stellte die Ordnung überall wieder her. Die
Organe der Priesterpartei schmähten die Maßregel als feiges Nachgeben
gegen unberechtigte Einmischung, als Verletzung des parlamentarischen Brauchs,
ja des constitutionellen Princips. Die große Mehrzahl der Belgier war da¬
mit einverstanden. Alles harrte der Auflösung der Kammern entgegen, da
man allgemein von dem Gegensatz der Majorität der Wähler und der im Con-
greß bestehenden überzeugt war, die Ansichten und Wünsche der Gemäßigten
waren auf Rücknahme des Gesetzentwurfs und Beibehaltung der'parlamen¬
tarischen Parteiverhältnisse gerichtet. Unter solchen Erwartungen waren einige
Tage verflossen, als die Nachricht verlautete, daß in einer Privatversammlung
von katholischen Abgeordneten von den i7 Anwesenden die Wiederaufnahme
der Debatte über das Wohlthätigkeitsgesetz sür unzeitgemäß erklärt hätten.
Unter dieser Constellation war eS der Negierung gestattet, die Schließung der
Session zu decretiren, so daß sie weder zur Zurücknahme des verhaßten Gesetz¬
entwurfs noch zur Auflösung der Kammer und zur Anordnung von Neuwahlen
genöthigt war. In dem daS Decret einleitenden Bericht der Minister a» den
König rechtfertigten dieselben aufs Neue die Vorlage des Gesetzes und- dessen
Fassung, und begründeten andererseits die Maßregel der Schließung auf Rück¬
sichten der Klugheit, welche „der öffentlichen Meinung Rechnung trage, auch
wenn diese sich durch Leidenschaft oder Vorurtheil habe verfüh¬
ren lassen." Diese etwas verletzende Sprache gegen die parlamentarische
Linke und die liberale Partei überhaupt, wurde durch den Eindruck verwischt,
welchen der edle, von tiefer Einsicht und seltener Besonnenheit zeugende Brief
machte, mit dem der König, sich an den Ministerpräsidenten wendend, seinem
Cabinet in dieser Frage antwortete.


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[0504] GesetzprojectS in sich schloß. Das Cabinet zauderte. Malon schien darauf eingehen zu wollen, aber die Grafen de Theur und Liedekerke erklärten sich gegen jede Transaction. Man trennte sich ohne Entscheidung und bestimmte eine zweite Conferenz auf den nächsten Tag. Bevor diese stattfand, berieth sich die Rechte über den einzuschlagenden Weg in einer Versammlung im Hotel Mervde, und das Resultat war, daß die Fraktion de Theur-Liedekerke mit ihrer Ansicht durchdrang; nur 12 Stimmen waren für den von der Linken vorge¬ schlagenen Vergleich. Die Linke erfuhr in einer Versammlung, die sie den¬ selben Abend hielt, von diesem Entschluß, und man vereinigte sich zu der Meinung, daß bei solcher Hartnäckigkeit der Gegner nichts übrig bliebe, als die Zurücknahme deS ganzen Gesetzentwurfs zu verlangen. Die Parteien in der Kammer hätten damit noch einmal zum Zusammen¬ stoß kommen müssen. Da entschloß sich die Regierung, der die Nachrichten aus den Provinzen jetzt ernstliche Besorgniß einflößten, zur Vertagung der Kammer, die am 2. Juni vom Ministerpräsidenten verlesen wurde. Diese vorläufige Lösung des Streites stellte die Ordnung überall wieder her. Die Organe der Priesterpartei schmähten die Maßregel als feiges Nachgeben gegen unberechtigte Einmischung, als Verletzung des parlamentarischen Brauchs, ja des constitutionellen Princips. Die große Mehrzahl der Belgier war da¬ mit einverstanden. Alles harrte der Auflösung der Kammern entgegen, da man allgemein von dem Gegensatz der Majorität der Wähler und der im Con- greß bestehenden überzeugt war, die Ansichten und Wünsche der Gemäßigten waren auf Rücknahme des Gesetzentwurfs und Beibehaltung der'parlamen¬ tarischen Parteiverhältnisse gerichtet. Unter solchen Erwartungen waren einige Tage verflossen, als die Nachricht verlautete, daß in einer Privatversammlung von katholischen Abgeordneten von den i7 Anwesenden die Wiederaufnahme der Debatte über das Wohlthätigkeitsgesetz sür unzeitgemäß erklärt hätten. Unter dieser Constellation war eS der Negierung gestattet, die Schließung der Session zu decretiren, so daß sie weder zur Zurücknahme des verhaßten Gesetz¬ entwurfs noch zur Auflösung der Kammer und zur Anordnung von Neuwahlen genöthigt war. In dem daS Decret einleitenden Bericht der Minister a» den König rechtfertigten dieselben aufs Neue die Vorlage des Gesetzes und- dessen Fassung, und begründeten andererseits die Maßregel der Schließung auf Rück¬ sichten der Klugheit, welche „der öffentlichen Meinung Rechnung trage, auch wenn diese sich durch Leidenschaft oder Vorurtheil habe verfüh¬ ren lassen." Diese etwas verletzende Sprache gegen die parlamentarische Linke und die liberale Partei überhaupt, wurde durch den Eindruck verwischt, welchen der edle, von tiefer Einsicht und seltener Besonnenheit zeugende Brief machte, mit dem der König, sich an den Ministerpräsidenten wendend, seinem Cabinet in dieser Frage antwortete.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/504>, abgerufen am 26.08.2024.