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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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die Parteien jetzt vorbereiten, werden zeigen, ob der Sieg der Liberalen ein
so vollständiger ist, als man bisher zu glauben berechtigt war. Die Linke be¬
darf etwa 13 Stimmen, um zur Majorität zu werden. Die Landbevölkerung
war bisher auf katholischer oder klerikaler Seite, während die Städte der Mehr¬
zahl nach liberal wählten. In Brüssel kann das Ministerium Rogier seiner
Sache gewiß sein, das Schicksal der Parteien wird sich aber nicht hier, son¬
dern in Gent und Antwerpen entscheiden.

Wir knüpfen hieran einen Rückblick auf die Geschichte deS belgischen
Parteiwesens, welches durch die geschilderten Vorgänge in ein neues Stadium
getreten ist, auf die parlamentarischen Kämpfe, welche dem Wohlthätigkeits¬
gesetz in der letzten Session der Kammern vorausgingen, und auf den Streit
um dieses Gesetz selbst.

Bekannt ist, daß die Kraft, welche die Unabhängigkeit Belgiens erstritt,
aus der Vereinigung zweier an sich entgegengesetzter Kräfte hervorging. ES
gab unter der holländischen Herrschaft Unzufriedene, welche den König als
Feind der Nationalfreiheiten, und andere Unzufriedene, welche ihn als Feind
ihrer Kirche, als Protestanten haßten. Die belgische Opposition in den
Generalstaaten, die belgische Presse zerfiel in eine liberale und eine katho¬
lische oder klerikale Partei. Beide Fraktionen griffen die Regierung mit
wechselnder Erbitterung an und entzogen ihr nach und nach fast allen Boden.
Daß sie ihr eine Zeit lang nicht allen Boden zu entziehen vermochten, lag
darin, daß sie sich gegenseitig mit wo möglich noch größerer Erbitterung an¬
feindeten, als die Regierung im Haag. Die klerikale Partei, damals die
stärkere von beiden, erinnerte sich endlich, daß ihr durch ein zeitweises Bünd-
niß mit den Liberalen der Sturz des josephinischen Regiments gelungen war,
und nach einigen Verhandlungen kam wirklich eine Union zu Stande. Die
Opposition trat hinfort in compacten Massen auf und verfuhr nach einem be¬
stimmt vorgezeichneten Feldzugsplan. Der Wortkampf in der Presse und aus
der Tribüne verwandelte sich am 24. August 1830 in einen Kampf mit
materiellen Waffen, die erstrebte Losreißung Belgiens von Holland erfolgte,
die Constituirung des neuen Staates wurde vollendet, und wie die beiden
Parteien seit Abschluß des Bündnisses erst mit Feder und Rede zusammen¬
gegangen waren, dann miteiander die brabanter Fahne auf die Barrikade" ge¬
pflanzt hatten, so blieben sie auch jetzt noch ziemlich einträchtig, als es einen
König zu wählen und durch eine Verfassung dem Neubau die letzte Form zu
geben galt.

Die nächsten Jahre handelte es sich um Feststellung der Beziehungen
Belgiens zum Auslande, namentlich flößte das grollende Holland noch immer
Besorgnis) ein, und so rieth noch immer die Klugheit zur Eintracht. Kaum
aber war jener Gegenstand der Furcht verschwunden, kaum hatte die Vormund-


die Parteien jetzt vorbereiten, werden zeigen, ob der Sieg der Liberalen ein
so vollständiger ist, als man bisher zu glauben berechtigt war. Die Linke be¬
darf etwa 13 Stimmen, um zur Majorität zu werden. Die Landbevölkerung
war bisher auf katholischer oder klerikaler Seite, während die Städte der Mehr¬
zahl nach liberal wählten. In Brüssel kann das Ministerium Rogier seiner
Sache gewiß sein, das Schicksal der Parteien wird sich aber nicht hier, son¬
dern in Gent und Antwerpen entscheiden.

Wir knüpfen hieran einen Rückblick auf die Geschichte deS belgischen
Parteiwesens, welches durch die geschilderten Vorgänge in ein neues Stadium
getreten ist, auf die parlamentarischen Kämpfe, welche dem Wohlthätigkeits¬
gesetz in der letzten Session der Kammern vorausgingen, und auf den Streit
um dieses Gesetz selbst.

Bekannt ist, daß die Kraft, welche die Unabhängigkeit Belgiens erstritt,
aus der Vereinigung zweier an sich entgegengesetzter Kräfte hervorging. ES
gab unter der holländischen Herrschaft Unzufriedene, welche den König als
Feind der Nationalfreiheiten, und andere Unzufriedene, welche ihn als Feind
ihrer Kirche, als Protestanten haßten. Die belgische Opposition in den
Generalstaaten, die belgische Presse zerfiel in eine liberale und eine katho¬
lische oder klerikale Partei. Beide Fraktionen griffen die Regierung mit
wechselnder Erbitterung an und entzogen ihr nach und nach fast allen Boden.
Daß sie ihr eine Zeit lang nicht allen Boden zu entziehen vermochten, lag
darin, daß sie sich gegenseitig mit wo möglich noch größerer Erbitterung an¬
feindeten, als die Regierung im Haag. Die klerikale Partei, damals die
stärkere von beiden, erinnerte sich endlich, daß ihr durch ein zeitweises Bünd-
niß mit den Liberalen der Sturz des josephinischen Regiments gelungen war,
und nach einigen Verhandlungen kam wirklich eine Union zu Stande. Die
Opposition trat hinfort in compacten Massen auf und verfuhr nach einem be¬
stimmt vorgezeichneten Feldzugsplan. Der Wortkampf in der Presse und aus
der Tribüne verwandelte sich am 24. August 1830 in einen Kampf mit
materiellen Waffen, die erstrebte Losreißung Belgiens von Holland erfolgte,
die Constituirung des neuen Staates wurde vollendet, und wie die beiden
Parteien seit Abschluß des Bündnisses erst mit Feder und Rede zusammen¬
gegangen waren, dann miteiander die brabanter Fahne auf die Barrikade» ge¬
pflanzt hatten, so blieben sie auch jetzt noch ziemlich einträchtig, als es einen
König zu wählen und durch eine Verfassung dem Neubau die letzte Form zu
geben galt.

Die nächsten Jahre handelte es sich um Feststellung der Beziehungen
Belgiens zum Auslande, namentlich flößte das grollende Holland noch immer
Besorgnis) ein, und so rieth noch immer die Klugheit zur Eintracht. Kaum
aber war jener Gegenstand der Furcht verschwunden, kaum hatte die Vormund-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/452>, abgerufen am 23.07.2024.