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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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deutsch gedacht und deutsch empfunden ist. Ferner eine historische Skizze über
das allmälige Bekanntwerden Shakespeares in Deutschland und die Urtheile
über ihn bis 1773. Manches davon hat der Verfasser in die neue Ausgabe
seiner Literaturgeschichte aufgenommen, doch wird auch diese ausführlichere
Behandlung den Freunden Shakespeares willkommen sein. Viel sinniges
und tief Empfundenes enthalten die beiden Abhandlungen über das gemüth¬
liche Naturgefühl der Deutschen und dessen Behandlung im Liebesliede mit
besonderer Beziehung auf Goethe, und: über die in Sage und Dichtung
gangbare Vorstellung von dem Fortleben, abgeschiedener menschlicher Seelen
in der Pflanzenwelt. Besonders erfreut haben uns auch die Andeutungen
über den erfolgreichen Antheil Preußens an der Neugestaltung der deutschen
Literatur seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts.

An diese Studien schließt sich eine monographische Behandlung de^S
herderschen Cid vom Oberlehrer Niemeyer (Crefeld, Köhler) haupt¬
sächlich wegen der fleißig durchgeführten Parallele zwischen der deutschen Um-
dichtung und dem Original.

Die Literatur über Shakespeare nimmt einen so ungeheuren Umfang ein,
daß man jedes neue Werk mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet; dennoch haben
wir eine neue Schrift, Vorlesungen über Shakespeare, seine Zeit und seine
Werke, von Friedrich Krevssig, erster Band (Berlin, Nikolai), mit großem In¬
teresse gelesen. Der Verfasser lehnt alle Ansprüche auf eine gelehrte Forschung ab
und wendet sich vorzugsweise an strebsame Dilettanten im guten Sinne, an Männer
und Frauen, welche ihrem Shakespeare, ohne die Muße und Hilfsmittel ZU
langjährigen strengen Studien zu besitzen, doch einen nachhaltigerem Genuß
verdanken möchten, als die unvermittelte und unvorbereitete Lectüre ihnen
gewähren kaun. Er hält sich im Allgemeinen auf dem Standpunkt von Ger-
vinus d. h. er gebt nicht auf eine eigentlich künstlerische Analyse aus, sondern er
betrachtet die Dramen wie ein fertiges Naturvrotucl und weist nach, einen
wie unendlichen Schatz glänzender Charakteristik, tiefer Empfindung und voll¬
endeter Lebensweisheit wir daran besitzen. Bei dem scharf ausgeprägten ge¬
sunden Menschenverstand deö Verfassers, bei seinem warmen Schönheitsgefühl
und seinem strengen sittlichen Ernst wird diese Lectüre auch für diejenigen an¬
ziehend sein, die sich bereits selber'ein fertiges Urtheil gebildet zu haben
glauben. Mit den Urtheilen stimmen wir fast durchweg überein, auch
mit den treffenden Seitenhieben auf Zustände der Gegenwart. Die Form ist
leicht und unterhaltend; etwas mehr Concentration wäre zu wünschen gewesen.

Mit Adolph Strodtmann: Heinrich Heines Wirken und Leben
dargestellt an seinen Werken, stimmen wir in den Grundanschauungen f"se
durchweg nicht überein. Er ist sür den Fortschritt der Menschheit durch
Revolutionen, sür die Poesie des Weltschmerzes, zu deren Träger nach 'hin


deutsch gedacht und deutsch empfunden ist. Ferner eine historische Skizze über
das allmälige Bekanntwerden Shakespeares in Deutschland und die Urtheile
über ihn bis 1773. Manches davon hat der Verfasser in die neue Ausgabe
seiner Literaturgeschichte aufgenommen, doch wird auch diese ausführlichere
Behandlung den Freunden Shakespeares willkommen sein. Viel sinniges
und tief Empfundenes enthalten die beiden Abhandlungen über das gemüth¬
liche Naturgefühl der Deutschen und dessen Behandlung im Liebesliede mit
besonderer Beziehung auf Goethe, und: über die in Sage und Dichtung
gangbare Vorstellung von dem Fortleben, abgeschiedener menschlicher Seelen
in der Pflanzenwelt. Besonders erfreut haben uns auch die Andeutungen
über den erfolgreichen Antheil Preußens an der Neugestaltung der deutschen
Literatur seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts.

An diese Studien schließt sich eine monographische Behandlung de^S
herderschen Cid vom Oberlehrer Niemeyer (Crefeld, Köhler) haupt¬
sächlich wegen der fleißig durchgeführten Parallele zwischen der deutschen Um-
dichtung und dem Original.

Die Literatur über Shakespeare nimmt einen so ungeheuren Umfang ein,
daß man jedes neue Werk mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet; dennoch haben
wir eine neue Schrift, Vorlesungen über Shakespeare, seine Zeit und seine
Werke, von Friedrich Krevssig, erster Band (Berlin, Nikolai), mit großem In¬
teresse gelesen. Der Verfasser lehnt alle Ansprüche auf eine gelehrte Forschung ab
und wendet sich vorzugsweise an strebsame Dilettanten im guten Sinne, an Männer
und Frauen, welche ihrem Shakespeare, ohne die Muße und Hilfsmittel ZU
langjährigen strengen Studien zu besitzen, doch einen nachhaltigerem Genuß
verdanken möchten, als die unvermittelte und unvorbereitete Lectüre ihnen
gewähren kaun. Er hält sich im Allgemeinen auf dem Standpunkt von Ger-
vinus d. h. er gebt nicht auf eine eigentlich künstlerische Analyse aus, sondern er
betrachtet die Dramen wie ein fertiges Naturvrotucl und weist nach, einen
wie unendlichen Schatz glänzender Charakteristik, tiefer Empfindung und voll¬
endeter Lebensweisheit wir daran besitzen. Bei dem scharf ausgeprägten ge¬
sunden Menschenverstand deö Verfassers, bei seinem warmen Schönheitsgefühl
und seinem strengen sittlichen Ernst wird diese Lectüre auch für diejenigen an¬
ziehend sein, die sich bereits selber'ein fertiges Urtheil gebildet zu haben
glauben. Mit den Urtheilen stimmen wir fast durchweg überein, auch
mit den treffenden Seitenhieben auf Zustände der Gegenwart. Die Form ist
leicht und unterhaltend; etwas mehr Concentration wäre zu wünschen gewesen.

Mit Adolph Strodtmann: Heinrich Heines Wirken und Leben
dargestellt an seinen Werken, stimmen wir in den Grundanschauungen f"se
durchweg nicht überein. Er ist sür den Fortschritt der Menschheit durch
Revolutionen, sür die Poesie des Weltschmerzes, zu deren Träger nach 'hin


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/422>, abgerufen am 23.07.2024.