Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Resultat führt, daß man sich hinter die Paragraphen der Logik frucht mehr
verschanzen kann, so macht sie das Capital flüssig, das im Innern dieser
Burg aufgehäuft ist, und ruft, wenn sie einigermaßen-ehrlich zu Werke geht,
ein neues Erstaunen über den Reichthum desselben hervor.

^ Fast jeder, der sich mit der Literaturgeschichte der neuern Zeit beschäftigt,
hat sich bemüht, sich mit der hegelschen Philosophie auseinanderzusetzen,*)
aber noch keiner hat bei diesem Versuch eine so streng wissenschaftliche
Methode verfolgt, als der Verfasser der vorliegenden Schrift. Haym ver¬
wandelt die Frage: was ist das Hegelsche System? in die andere: wie ist es
geworden? Er analysirt die Entwickelung Hegels nach den vorhandenen ?
Documenten Schritt vor Schritt von seiner ersten Jugend bis ans Ende
seines Lebens; er weist fast von Jahr zu Jahr die neuen Momente auf, die ihm
von außen her zugeführt wurden, und den Umbildungöprvccß, durch welche
er sie seinem Gedankenkreis assimilirte. Der-Scharfsinn dieser Analyse ist
ebenso anerkennenswert!) alö ihre Gewissenhaftigkeit. Haym hat das um¬
fangreiche Material nicht blos nach seiner ganzen Breite durchforscht, er hat
überall die charakteristischen Uebergangsmomente richtig aufgefunden, und
weiß den pragmatischen Zusammenhang so evident herauszustellen, daß auch
derjenige ihm folgen kann, dem Hegels Werke selbst ein Buch mit sieben
Siegeln sind. Er vereinigt die Gabe, das Gespinnst scholastischer Abstraktionen
zu entwirren, mit der ander", diese Operation vor den Augen des Publicums
M so geordneter Folge auszuführen, daß eS sich selbst dabei betheiligt. Er
bleibt aber nicht, wie die alten Hegelianer, bei der bloßen Analyse stehn, er
tritt überall mit einem scharfen und bestimmten Urtheil hervor; er zeigt nicht
nur, wie man bei Hegels Anlage und Erziehung alle einzelnen Schritte seines
Denkens begreifen kann, sondern er controlirt jede" Schritt, und weist nach,
wie weit sich Wahres und Falsches darin gemischt haben. Einzelne seiner
Deductionen sind glänzend, besonders das Capitel über die Phänomenologie,
und man wird keinen Abschnitt finden, in dem man nicht durch einige wesent¬
liche Gesichtspunkte gefördert würde. Nur gegen das Ende hin scheint seine
Kraft etwas erlahmt zu sein; von den wichtige" Vorlesungen über die Ge¬
schichte der Philosophie ist fast gar nicht die Rede, und mit den,
übrigen berliner Vorlesungen Hegels wird ein gar zu summarischer Proceß
gemacht.

Käme Hayms Aufgabe einzig auf die genetische Charakteristik des hegelschen
Systems heraus, so hätte erste, einzelne Ausstellungen abgerechnet, gelöst; bean¬
spruchter aber eine erschöpfende Charakteristik deö Systems, ein Inventarium dessen,
was von dieser Philosophie ein bleibender Schatz für die Nation ist, gegeben



*) Auch Referent in der Geschichte der deutschen Literatur im 19. I-, 3. Aufl. Bd. 2.
46*

Resultat führt, daß man sich hinter die Paragraphen der Logik frucht mehr
verschanzen kann, so macht sie das Capital flüssig, das im Innern dieser
Burg aufgehäuft ist, und ruft, wenn sie einigermaßen-ehrlich zu Werke geht,
ein neues Erstaunen über den Reichthum desselben hervor.

^ Fast jeder, der sich mit der Literaturgeschichte der neuern Zeit beschäftigt,
hat sich bemüht, sich mit der hegelschen Philosophie auseinanderzusetzen,*)
aber noch keiner hat bei diesem Versuch eine so streng wissenschaftliche
Methode verfolgt, als der Verfasser der vorliegenden Schrift. Haym ver¬
wandelt die Frage: was ist das Hegelsche System? in die andere: wie ist es
geworden? Er analysirt die Entwickelung Hegels nach den vorhandenen ?
Documenten Schritt vor Schritt von seiner ersten Jugend bis ans Ende
seines Lebens; er weist fast von Jahr zu Jahr die neuen Momente auf, die ihm
von außen her zugeführt wurden, und den Umbildungöprvccß, durch welche
er sie seinem Gedankenkreis assimilirte. Der-Scharfsinn dieser Analyse ist
ebenso anerkennenswert!) alö ihre Gewissenhaftigkeit. Haym hat das um¬
fangreiche Material nicht blos nach seiner ganzen Breite durchforscht, er hat
überall die charakteristischen Uebergangsmomente richtig aufgefunden, und
weiß den pragmatischen Zusammenhang so evident herauszustellen, daß auch
derjenige ihm folgen kann, dem Hegels Werke selbst ein Buch mit sieben
Siegeln sind. Er vereinigt die Gabe, das Gespinnst scholastischer Abstraktionen
zu entwirren, mit der ander», diese Operation vor den Augen des Publicums
M so geordneter Folge auszuführen, daß eS sich selbst dabei betheiligt. Er
bleibt aber nicht, wie die alten Hegelianer, bei der bloßen Analyse stehn, er
tritt überall mit einem scharfen und bestimmten Urtheil hervor; er zeigt nicht
nur, wie man bei Hegels Anlage und Erziehung alle einzelnen Schritte seines
Denkens begreifen kann, sondern er controlirt jede» Schritt, und weist nach,
wie weit sich Wahres und Falsches darin gemischt haben. Einzelne seiner
Deductionen sind glänzend, besonders das Capitel über die Phänomenologie,
und man wird keinen Abschnitt finden, in dem man nicht durch einige wesent¬
liche Gesichtspunkte gefördert würde. Nur gegen das Ende hin scheint seine
Kraft etwas erlahmt zu sein; von den wichtige» Vorlesungen über die Ge¬
schichte der Philosophie ist fast gar nicht die Rede, und mit den,
übrigen berliner Vorlesungen Hegels wird ein gar zu summarischer Proceß
gemacht.

Käme Hayms Aufgabe einzig auf die genetische Charakteristik des hegelschen
Systems heraus, so hätte erste, einzelne Ausstellungen abgerechnet, gelöst; bean¬
spruchter aber eine erschöpfende Charakteristik deö Systems, ein Inventarium dessen,
was von dieser Philosophie ein bleibender Schatz für die Nation ist, gegeben



*) Auch Referent in der Geschichte der deutschen Literatur im 19. I-, 3. Aufl. Bd. 2.
46*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0371" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105106"/>
          <p xml:id="ID_1031" prev="#ID_1030"> Resultat führt, daß man sich hinter die Paragraphen der Logik frucht mehr<lb/>
verschanzen kann, so macht sie das Capital flüssig, das im Innern dieser<lb/>
Burg aufgehäuft ist, und ruft, wenn sie einigermaßen-ehrlich zu Werke geht,<lb/>
ein neues Erstaunen über den Reichthum desselben hervor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1032"> ^ Fast jeder, der sich mit der Literaturgeschichte der neuern Zeit beschäftigt,<lb/>
hat sich bemüht, sich mit der hegelschen Philosophie auseinanderzusetzen,*)<lb/>
aber noch keiner hat bei diesem Versuch eine so streng wissenschaftliche<lb/>
Methode verfolgt, als der Verfasser der vorliegenden Schrift. Haym ver¬<lb/>
wandelt die Frage: was ist das Hegelsche System? in die andere: wie ist es<lb/>
geworden? Er analysirt die Entwickelung Hegels nach den vorhandenen ?<lb/>
Documenten Schritt vor Schritt von seiner ersten Jugend bis ans Ende<lb/>
seines Lebens; er weist fast von Jahr zu Jahr die neuen Momente auf, die ihm<lb/>
von außen her zugeführt wurden, und den Umbildungöprvccß, durch welche<lb/>
er sie seinem Gedankenkreis assimilirte. Der-Scharfsinn dieser Analyse ist<lb/>
ebenso anerkennenswert!) alö ihre Gewissenhaftigkeit. Haym hat das um¬<lb/>
fangreiche Material nicht blos nach seiner ganzen Breite durchforscht, er hat<lb/>
überall die charakteristischen Uebergangsmomente richtig aufgefunden, und<lb/>
weiß den pragmatischen Zusammenhang so evident herauszustellen, daß auch<lb/>
derjenige ihm folgen kann, dem Hegels Werke selbst ein Buch mit sieben<lb/>
Siegeln sind. Er vereinigt die Gabe, das Gespinnst scholastischer Abstraktionen<lb/>
zu entwirren, mit der ander», diese Operation vor den Augen des Publicums<lb/>
M so geordneter Folge auszuführen, daß eS sich selbst dabei betheiligt. Er<lb/>
bleibt aber nicht, wie die alten Hegelianer, bei der bloßen Analyse stehn, er<lb/>
tritt überall mit einem scharfen und bestimmten Urtheil hervor; er zeigt nicht<lb/>
nur, wie man bei Hegels Anlage und Erziehung alle einzelnen Schritte seines<lb/>
Denkens begreifen kann, sondern er controlirt jede» Schritt, und weist nach,<lb/>
wie weit sich Wahres und Falsches darin gemischt haben. Einzelne seiner<lb/>
Deductionen sind glänzend, besonders das Capitel über die Phänomenologie,<lb/>
und man wird keinen Abschnitt finden, in dem man nicht durch einige wesent¬<lb/>
liche Gesichtspunkte gefördert würde. Nur gegen das Ende hin scheint seine<lb/>
Kraft etwas erlahmt zu sein; von den wichtige» Vorlesungen über die Ge¬<lb/>
schichte der Philosophie ist fast gar nicht die Rede, und mit den,<lb/>
übrigen berliner Vorlesungen Hegels wird ein gar zu summarischer Proceß<lb/>
gemacht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1033" next="#ID_1034"> Käme Hayms Aufgabe einzig auf die genetische Charakteristik des hegelschen<lb/>
Systems heraus, so hätte erste, einzelne Ausstellungen abgerechnet, gelöst; bean¬<lb/>
spruchter aber eine erschöpfende Charakteristik deö Systems, ein Inventarium dessen,<lb/>
was von dieser Philosophie ein bleibender Schatz für die Nation ist, gegeben</p><lb/>
          <note xml:id="FID_12" place="foot"> *) Auch Referent in der Geschichte der deutschen Literatur im 19. I-, 3. Aufl. Bd. 2.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 46*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0371] Resultat führt, daß man sich hinter die Paragraphen der Logik frucht mehr verschanzen kann, so macht sie das Capital flüssig, das im Innern dieser Burg aufgehäuft ist, und ruft, wenn sie einigermaßen-ehrlich zu Werke geht, ein neues Erstaunen über den Reichthum desselben hervor. ^ Fast jeder, der sich mit der Literaturgeschichte der neuern Zeit beschäftigt, hat sich bemüht, sich mit der hegelschen Philosophie auseinanderzusetzen,*) aber noch keiner hat bei diesem Versuch eine so streng wissenschaftliche Methode verfolgt, als der Verfasser der vorliegenden Schrift. Haym ver¬ wandelt die Frage: was ist das Hegelsche System? in die andere: wie ist es geworden? Er analysirt die Entwickelung Hegels nach den vorhandenen ? Documenten Schritt vor Schritt von seiner ersten Jugend bis ans Ende seines Lebens; er weist fast von Jahr zu Jahr die neuen Momente auf, die ihm von außen her zugeführt wurden, und den Umbildungöprvccß, durch welche er sie seinem Gedankenkreis assimilirte. Der-Scharfsinn dieser Analyse ist ebenso anerkennenswert!) alö ihre Gewissenhaftigkeit. Haym hat das um¬ fangreiche Material nicht blos nach seiner ganzen Breite durchforscht, er hat überall die charakteristischen Uebergangsmomente richtig aufgefunden, und weiß den pragmatischen Zusammenhang so evident herauszustellen, daß auch derjenige ihm folgen kann, dem Hegels Werke selbst ein Buch mit sieben Siegeln sind. Er vereinigt die Gabe, das Gespinnst scholastischer Abstraktionen zu entwirren, mit der ander», diese Operation vor den Augen des Publicums M so geordneter Folge auszuführen, daß eS sich selbst dabei betheiligt. Er bleibt aber nicht, wie die alten Hegelianer, bei der bloßen Analyse stehn, er tritt überall mit einem scharfen und bestimmten Urtheil hervor; er zeigt nicht nur, wie man bei Hegels Anlage und Erziehung alle einzelnen Schritte seines Denkens begreifen kann, sondern er controlirt jede» Schritt, und weist nach, wie weit sich Wahres und Falsches darin gemischt haben. Einzelne seiner Deductionen sind glänzend, besonders das Capitel über die Phänomenologie, und man wird keinen Abschnitt finden, in dem man nicht durch einige wesent¬ liche Gesichtspunkte gefördert würde. Nur gegen das Ende hin scheint seine Kraft etwas erlahmt zu sein; von den wichtige» Vorlesungen über die Ge¬ schichte der Philosophie ist fast gar nicht die Rede, und mit den, übrigen berliner Vorlesungen Hegels wird ein gar zu summarischer Proceß gemacht. Käme Hayms Aufgabe einzig auf die genetische Charakteristik des hegelschen Systems heraus, so hätte erste, einzelne Ausstellungen abgerechnet, gelöst; bean¬ spruchter aber eine erschöpfende Charakteristik deö Systems, ein Inventarium dessen, was von dieser Philosophie ein bleibender Schatz für die Nation ist, gegeben *) Auch Referent in der Geschichte der deutschen Literatur im 19. I-, 3. Aufl. Bd. 2. 46*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/371
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/371>, abgerufen am 23.07.2024.