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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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So wenig war der Aufstand des bengalischen Heers eine nationale Erhebung,
daß in unzähligen Fällen die flüchtigen Engländer bei den Eingeborenen
Schutz und Rettung gefunden haben, so weit nicht eben die unmittelbare
Macht der Aufständigen reichte. Es ist zu erwarten, daß noch mancher todt¬
geglaubte Engländer bei der zu erwartenden Reinigung deS Landes seiner
Heimath zurückgegeben werden wird. In Bombay war die AnsteckungSfähig-
teit des Aufstandes eine so geringe, daß mit Ausnahme der nördlichen an
Delhi und Agra grenzenden Provinzen und vereinzelten Erhebungsversuchen
die ganze Präsidentschaft treu geblieben ist, und dasselbe ist in noch höherm
Grade bei Madras der Fall. Außer den Prinzen aus dem alten Geschlechte
der Großmoguls und Neua Sahib, der nur durch Adoption, nicht durch
Geburt Fürst ist, hat keiner der größern Landesfürsten sich am Aufstand be¬
theiligt; um so mehr aber die ungeheure Masse der kleinen Najahs, welche
die alten guten Zeiten nicht vergessen konnten. Die Erhebung ist so wenig
eine nationale gewesen, daß die Engländer, mit Ausnahme einiger Audh-Di-
stricte, von woher sich das bengalische Heer vorzugsweise recrutirte, bei der
Bevölkerung nirgend Schwierigkeit zur Versorgung mit reichlichem Proviant
fanden. Das Meiste freilich hat der Lage der Sache nach das Pendschab
leisten müssen, das vor kaum einem Jahrzehnt erst die heimische mit der
englischen Herrschaft vertauscht hat. Durch John Lawrence, der seinem
Bruder Henry in der Verwaltung gefolgt war, vortrefflich organisirt und
verwaltet, ward es der Stützpunkt der gegen Delhi gerichteten Operationen,
und Mit Recht konnte der Generalgouvemeur nach dessen Einnahme dem ver¬
dienstvollen Statthalter im Pendschab reichliches Lob für seine Leistungen
aussprechen.

Delhi ist gefallen, und damit der Kern des Aufstandes gebrochen. Es ist ge¬
fallen, ohne daß ein einziger der von Europa zugesandten englischen Soldaten
noch den Boden Ostindiens betreten hatte, allein durch die Ausdauer und
Tapferkeit eines kleinen englischen Heers und weniger Hilfsvölker. Von den
Engländern selbst als möglichst uneinnehmbare Festung gegen einen möglichen
Angriff von Norden hergeitellt, mit allen Mitteln der Kriegführung im reich¬
lichsten Maße versehen, konnte es der Energie und der unbezwinglichen Tapfer-
keit der Engländer nicht widerstehen. Wie gekämpft sein mag und. gegen
welche Zahlen und Verhältnisse, davon zeugen die ganz unglaublichen Verluste
der Engländer, der dritte Theil des Heeres und an ihrer Spitze ein tapfrer
und berühmter General nebst vielen Offizieren. Aber der Sieg scheint keinen
Augenblick ernstlich geschwankt zu haben und wurde endlich mit der Gefangen¬
nehmung des alten Schattenkaisers und mehrer Prinzen seines Hauses be¬
lohnt. Der alte Mann ist seitdem Gefangener in seinem eigenen Palaste.
Wunderbares Geschick, das ihn grade zu der Zeit ins Leben rief, als die Eng-


Grenzboren. IV. 18ö7. 45

So wenig war der Aufstand des bengalischen Heers eine nationale Erhebung,
daß in unzähligen Fällen die flüchtigen Engländer bei den Eingeborenen
Schutz und Rettung gefunden haben, so weit nicht eben die unmittelbare
Macht der Aufständigen reichte. Es ist zu erwarten, daß noch mancher todt¬
geglaubte Engländer bei der zu erwartenden Reinigung deS Landes seiner
Heimath zurückgegeben werden wird. In Bombay war die AnsteckungSfähig-
teit des Aufstandes eine so geringe, daß mit Ausnahme der nördlichen an
Delhi und Agra grenzenden Provinzen und vereinzelten Erhebungsversuchen
die ganze Präsidentschaft treu geblieben ist, und dasselbe ist in noch höherm
Grade bei Madras der Fall. Außer den Prinzen aus dem alten Geschlechte
der Großmoguls und Neua Sahib, der nur durch Adoption, nicht durch
Geburt Fürst ist, hat keiner der größern Landesfürsten sich am Aufstand be¬
theiligt; um so mehr aber die ungeheure Masse der kleinen Najahs, welche
die alten guten Zeiten nicht vergessen konnten. Die Erhebung ist so wenig
eine nationale gewesen, daß die Engländer, mit Ausnahme einiger Audh-Di-
stricte, von woher sich das bengalische Heer vorzugsweise recrutirte, bei der
Bevölkerung nirgend Schwierigkeit zur Versorgung mit reichlichem Proviant
fanden. Das Meiste freilich hat der Lage der Sache nach das Pendschab
leisten müssen, das vor kaum einem Jahrzehnt erst die heimische mit der
englischen Herrschaft vertauscht hat. Durch John Lawrence, der seinem
Bruder Henry in der Verwaltung gefolgt war, vortrefflich organisirt und
verwaltet, ward es der Stützpunkt der gegen Delhi gerichteten Operationen,
und Mit Recht konnte der Generalgouvemeur nach dessen Einnahme dem ver¬
dienstvollen Statthalter im Pendschab reichliches Lob für seine Leistungen
aussprechen.

Delhi ist gefallen, und damit der Kern des Aufstandes gebrochen. Es ist ge¬
fallen, ohne daß ein einziger der von Europa zugesandten englischen Soldaten
noch den Boden Ostindiens betreten hatte, allein durch die Ausdauer und
Tapferkeit eines kleinen englischen Heers und weniger Hilfsvölker. Von den
Engländern selbst als möglichst uneinnehmbare Festung gegen einen möglichen
Angriff von Norden hergeitellt, mit allen Mitteln der Kriegführung im reich¬
lichsten Maße versehen, konnte es der Energie und der unbezwinglichen Tapfer-
keit der Engländer nicht widerstehen. Wie gekämpft sein mag und. gegen
welche Zahlen und Verhältnisse, davon zeugen die ganz unglaublichen Verluste
der Engländer, der dritte Theil des Heeres und an ihrer Spitze ein tapfrer
und berühmter General nebst vielen Offizieren. Aber der Sieg scheint keinen
Augenblick ernstlich geschwankt zu haben und wurde endlich mit der Gefangen¬
nehmung des alten Schattenkaisers und mehrer Prinzen seines Hauses be¬
lohnt. Der alte Mann ist seitdem Gefangener in seinem eigenen Palaste.
Wunderbares Geschick, das ihn grade zu der Zeit ins Leben rief, als die Eng-


Grenzboren. IV. 18ö7. 45
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[0361] So wenig war der Aufstand des bengalischen Heers eine nationale Erhebung, daß in unzähligen Fällen die flüchtigen Engländer bei den Eingeborenen Schutz und Rettung gefunden haben, so weit nicht eben die unmittelbare Macht der Aufständigen reichte. Es ist zu erwarten, daß noch mancher todt¬ geglaubte Engländer bei der zu erwartenden Reinigung deS Landes seiner Heimath zurückgegeben werden wird. In Bombay war die AnsteckungSfähig- teit des Aufstandes eine so geringe, daß mit Ausnahme der nördlichen an Delhi und Agra grenzenden Provinzen und vereinzelten Erhebungsversuchen die ganze Präsidentschaft treu geblieben ist, und dasselbe ist in noch höherm Grade bei Madras der Fall. Außer den Prinzen aus dem alten Geschlechte der Großmoguls und Neua Sahib, der nur durch Adoption, nicht durch Geburt Fürst ist, hat keiner der größern Landesfürsten sich am Aufstand be¬ theiligt; um so mehr aber die ungeheure Masse der kleinen Najahs, welche die alten guten Zeiten nicht vergessen konnten. Die Erhebung ist so wenig eine nationale gewesen, daß die Engländer, mit Ausnahme einiger Audh-Di- stricte, von woher sich das bengalische Heer vorzugsweise recrutirte, bei der Bevölkerung nirgend Schwierigkeit zur Versorgung mit reichlichem Proviant fanden. Das Meiste freilich hat der Lage der Sache nach das Pendschab leisten müssen, das vor kaum einem Jahrzehnt erst die heimische mit der englischen Herrschaft vertauscht hat. Durch John Lawrence, der seinem Bruder Henry in der Verwaltung gefolgt war, vortrefflich organisirt und verwaltet, ward es der Stützpunkt der gegen Delhi gerichteten Operationen, und Mit Recht konnte der Generalgouvemeur nach dessen Einnahme dem ver¬ dienstvollen Statthalter im Pendschab reichliches Lob für seine Leistungen aussprechen. Delhi ist gefallen, und damit der Kern des Aufstandes gebrochen. Es ist ge¬ fallen, ohne daß ein einziger der von Europa zugesandten englischen Soldaten noch den Boden Ostindiens betreten hatte, allein durch die Ausdauer und Tapferkeit eines kleinen englischen Heers und weniger Hilfsvölker. Von den Engländern selbst als möglichst uneinnehmbare Festung gegen einen möglichen Angriff von Norden hergeitellt, mit allen Mitteln der Kriegführung im reich¬ lichsten Maße versehen, konnte es der Energie und der unbezwinglichen Tapfer- keit der Engländer nicht widerstehen. Wie gekämpft sein mag und. gegen welche Zahlen und Verhältnisse, davon zeugen die ganz unglaublichen Verluste der Engländer, der dritte Theil des Heeres und an ihrer Spitze ein tapfrer und berühmter General nebst vielen Offizieren. Aber der Sieg scheint keinen Augenblick ernstlich geschwankt zu haben und wurde endlich mit der Gefangen¬ nehmung des alten Schattenkaisers und mehrer Prinzen seines Hauses be¬ lohnt. Der alte Mann ist seitdem Gefangener in seinem eigenen Palaste. Wunderbares Geschick, das ihn grade zu der Zeit ins Leben rief, als die Eng- Grenzboren. IV. 18ö7. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/361>, abgerufen am 23.07.2024.