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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Brausekopf bei allen Liebhabereigenschaften! Könnten nur unsere Schauspieler,
wie sie nach London pilgern, auch italienische Breter betreten, italienische Ge¬
nossen kennen lernen, daß sie einmal begriffen, wie namentlich im Lustspiel so
vieles erst wieder zu vergessen ist, was sie an Unnatur sich mühsam aneigneten.
Hier aber haben wir vor allem das Lustspiel vor Augen. Bei uns wird dasselbe
leicht zur Posse oder, wenn die Darsteller den rechten Ton nicht finden, zum
Schauspiel. Bei' den Italienern verwandelt sich nicht selten durch die Lebhaftig¬
keit und Natürlichkeit ihres Spiels die Posse ins Lustspiel. Von Interesse ist
das Nebeneinander der italienischen und französischen Komödie in Rom. Bei
den Franzosen Lebhaftigkeit, Grazie, angebornes savoir vlvrs, häusig auf Kosten
der innern Natürlichkeit; bei den Italienern Temperament, Gehenlassen, Ver¬
nachlässigung alles Decorums, vollkommnes Verwachsen mit der Rolle, unge¬
zogenste Natürlichkeit. Hätte man in Rom auch englisches und deutsches
Theater zum Vergleichen, so würde man das englische an Freiheit vom Eti¬
kettenzwange dem italienischen nahestellen müssen und ihm eine gewisse rohe
Ursprünglichkeit zuerkennen, die des südlichen Zaubers entbehrt, das deutsche
aber verriethe seine französische Erziehung durch den fremden, nur angelernten
Ton, der uns zur Zeit noch im geselligen Leben nicht natürlich genug ist, daß
die Bühne bei uns das Leben im feinen Sinne treu abspiegeln könnte. Der
italienische Primo Amoroso scheint auf der Bühne nur die Unterhaltung fort¬
zusetzen, die er soeben im Corso, im Toledo oder auf dem Lungarno abbrach;
der französische kann aus den "Varivlös", ohne Ton, Kleidung und Haltung
zu ändern, zu einer Damengruppe im Palais royal oder im Tuileriengarte"
treten, und keine der Angeredeten wird mehr als einen Mann mit artigen Sit¬
ten in ihm erblicken; der englische verfällt ohne Weiteres als Vertreter deö
Begriffes "London socii" den Witzjägern des Punch; den deutschen aber
fängt der erste beste Zeichner eines Modejournals ein und liefert ihn dahin
zurück, wo seine Erscheinung sich allein herschreiben läßt. Die Theaterkritik,
durch ihr Bemäkeln jeder etwas linkischer Bewegung, sündigt bei uns in die¬
sem Sinne mehr als sie es glauben mag. Wir sind einmal etwas linkisch, schlimm
genug freilich; aber vor Besorgnis), diese unsere Anlage zu verrathen, kommen
wir nicht zur Verwerthung unserer innern Vorzüge und verfallen ins Mario-
netlenartige, waS weder dem Franzosen, noch dem Italiener, noch selbst dem
Engländer begegnet.

Ueber die Befähigung der Italiener zur Tragödie hat die Ristori den
etwaigen Zweiflern des Auslandes die Augen geöffnet. Sie ist bedeutender
als die Sadowski in Neapel, aber die Anlage der Italiener zu alle" Arten
des BühnenspielS ist so groß, daß man ihre Erscheinung nicht füglich als eine
durchaus vereinzelte bezeichnen darf. Die Fumagalli in Rom z. B. läßt noch
immer aus ihre ehemalige Vortrefflichkeit zurückschließen, obschon sie bereits


Brausekopf bei allen Liebhabereigenschaften! Könnten nur unsere Schauspieler,
wie sie nach London pilgern, auch italienische Breter betreten, italienische Ge¬
nossen kennen lernen, daß sie einmal begriffen, wie namentlich im Lustspiel so
vieles erst wieder zu vergessen ist, was sie an Unnatur sich mühsam aneigneten.
Hier aber haben wir vor allem das Lustspiel vor Augen. Bei uns wird dasselbe
leicht zur Posse oder, wenn die Darsteller den rechten Ton nicht finden, zum
Schauspiel. Bei' den Italienern verwandelt sich nicht selten durch die Lebhaftig¬
keit und Natürlichkeit ihres Spiels die Posse ins Lustspiel. Von Interesse ist
das Nebeneinander der italienischen und französischen Komödie in Rom. Bei
den Franzosen Lebhaftigkeit, Grazie, angebornes savoir vlvrs, häusig auf Kosten
der innern Natürlichkeit; bei den Italienern Temperament, Gehenlassen, Ver¬
nachlässigung alles Decorums, vollkommnes Verwachsen mit der Rolle, unge¬
zogenste Natürlichkeit. Hätte man in Rom auch englisches und deutsches
Theater zum Vergleichen, so würde man das englische an Freiheit vom Eti¬
kettenzwange dem italienischen nahestellen müssen und ihm eine gewisse rohe
Ursprünglichkeit zuerkennen, die des südlichen Zaubers entbehrt, das deutsche
aber verriethe seine französische Erziehung durch den fremden, nur angelernten
Ton, der uns zur Zeit noch im geselligen Leben nicht natürlich genug ist, daß
die Bühne bei uns das Leben im feinen Sinne treu abspiegeln könnte. Der
italienische Primo Amoroso scheint auf der Bühne nur die Unterhaltung fort¬
zusetzen, die er soeben im Corso, im Toledo oder auf dem Lungarno abbrach;
der französische kann aus den „Varivlös", ohne Ton, Kleidung und Haltung
zu ändern, zu einer Damengruppe im Palais royal oder im Tuileriengarte»
treten, und keine der Angeredeten wird mehr als einen Mann mit artigen Sit¬
ten in ihm erblicken; der englische verfällt ohne Weiteres als Vertreter deö
Begriffes „London socii" den Witzjägern des Punch; den deutschen aber
fängt der erste beste Zeichner eines Modejournals ein und liefert ihn dahin
zurück, wo seine Erscheinung sich allein herschreiben läßt. Die Theaterkritik,
durch ihr Bemäkeln jeder etwas linkischer Bewegung, sündigt bei uns in die¬
sem Sinne mehr als sie es glauben mag. Wir sind einmal etwas linkisch, schlimm
genug freilich; aber vor Besorgnis), diese unsere Anlage zu verrathen, kommen
wir nicht zur Verwerthung unserer innern Vorzüge und verfallen ins Mario-
netlenartige, waS weder dem Franzosen, noch dem Italiener, noch selbst dem
Engländer begegnet.

Ueber die Befähigung der Italiener zur Tragödie hat die Ristori den
etwaigen Zweiflern des Auslandes die Augen geöffnet. Sie ist bedeutender
als die Sadowski in Neapel, aber die Anlage der Italiener zu alle» Arten
des BühnenspielS ist so groß, daß man ihre Erscheinung nicht füglich als eine
durchaus vereinzelte bezeichnen darf. Die Fumagalli in Rom z. B. läßt noch
immer aus ihre ehemalige Vortrefflichkeit zurückschließen, obschon sie bereits


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[0252] Brausekopf bei allen Liebhabereigenschaften! Könnten nur unsere Schauspieler, wie sie nach London pilgern, auch italienische Breter betreten, italienische Ge¬ nossen kennen lernen, daß sie einmal begriffen, wie namentlich im Lustspiel so vieles erst wieder zu vergessen ist, was sie an Unnatur sich mühsam aneigneten. Hier aber haben wir vor allem das Lustspiel vor Augen. Bei uns wird dasselbe leicht zur Posse oder, wenn die Darsteller den rechten Ton nicht finden, zum Schauspiel. Bei' den Italienern verwandelt sich nicht selten durch die Lebhaftig¬ keit und Natürlichkeit ihres Spiels die Posse ins Lustspiel. Von Interesse ist das Nebeneinander der italienischen und französischen Komödie in Rom. Bei den Franzosen Lebhaftigkeit, Grazie, angebornes savoir vlvrs, häusig auf Kosten der innern Natürlichkeit; bei den Italienern Temperament, Gehenlassen, Ver¬ nachlässigung alles Decorums, vollkommnes Verwachsen mit der Rolle, unge¬ zogenste Natürlichkeit. Hätte man in Rom auch englisches und deutsches Theater zum Vergleichen, so würde man das englische an Freiheit vom Eti¬ kettenzwange dem italienischen nahestellen müssen und ihm eine gewisse rohe Ursprünglichkeit zuerkennen, die des südlichen Zaubers entbehrt, das deutsche aber verriethe seine französische Erziehung durch den fremden, nur angelernten Ton, der uns zur Zeit noch im geselligen Leben nicht natürlich genug ist, daß die Bühne bei uns das Leben im feinen Sinne treu abspiegeln könnte. Der italienische Primo Amoroso scheint auf der Bühne nur die Unterhaltung fort¬ zusetzen, die er soeben im Corso, im Toledo oder auf dem Lungarno abbrach; der französische kann aus den „Varivlös", ohne Ton, Kleidung und Haltung zu ändern, zu einer Damengruppe im Palais royal oder im Tuileriengarte» treten, und keine der Angeredeten wird mehr als einen Mann mit artigen Sit¬ ten in ihm erblicken; der englische verfällt ohne Weiteres als Vertreter deö Begriffes „London socii" den Witzjägern des Punch; den deutschen aber fängt der erste beste Zeichner eines Modejournals ein und liefert ihn dahin zurück, wo seine Erscheinung sich allein herschreiben läßt. Die Theaterkritik, durch ihr Bemäkeln jeder etwas linkischer Bewegung, sündigt bei uns in die¬ sem Sinne mehr als sie es glauben mag. Wir sind einmal etwas linkisch, schlimm genug freilich; aber vor Besorgnis), diese unsere Anlage zu verrathen, kommen wir nicht zur Verwerthung unserer innern Vorzüge und verfallen ins Mario- netlenartige, waS weder dem Franzosen, noch dem Italiener, noch selbst dem Engländer begegnet. Ueber die Befähigung der Italiener zur Tragödie hat die Ristori den etwaigen Zweiflern des Auslandes die Augen geöffnet. Sie ist bedeutender als die Sadowski in Neapel, aber die Anlage der Italiener zu alle» Arten des BühnenspielS ist so groß, daß man ihre Erscheinung nicht füglich als eine durchaus vereinzelte bezeichnen darf. Die Fumagalli in Rom z. B. läßt noch immer aus ihre ehemalige Vortrefflichkeit zurückschließen, obschon sie bereits

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/252>, abgerufen am 23.07.2024.