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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Blumenvasen, mehre Palmzweige stecken. Zwei Seiltänzer, mit Balancirstangen
versehen, haben eben das Ziel erreicht und sind im Begriffe, die Hände nach
dem Siegcspreise auszustrecken. Kein Unbefangener, der hie späte Zeit der
Entstehung dieser Münze, den Stolz der Cyzikencr auf die von ihnen prote-
girte Kunst und die überschwenglichen Belohnungen anderer untergeordneter
Künstler in der späteren Kaiserzeit erwägt, wird nun daran zweifeln, daß
jene Leute die Palmen für sich selbst herabholten. Böttiger dagegen, von der
hohen Bedeutung der Siegespalme in früherer Zeit erfüllt, leugnet es und
geräth dadurch in Widerspruch mit der eignen Abbildung der Münze. Am
Fuße der schwachen Gegenstützcn stehen nämlich noch je zwei Personen, welche
theils die Balken umfaßt haben, als wollten sie die Sicherheit des Gerüstes
vermehren, theils Gesten machen, als wollten sie die Stangen erklettern. Diese
Figuren hielt Böttiger für Klopffechter oder Athleten "in voller Arbeit deS
Faustkampfes begriffen", und für sie sollten jene armen Seiltänzer die Hand¬
langer der Palmen vorstellen! So schlägt oft eine vorgefaßte Meinung der
offenbaren Wahrheit ins Gesicht! -- Den.aus der Apostelgeschichte bekannten
Magier Simon, von welchem die apokrvphische Kirchengeschichte erzählt, daß
er zu Rom unter Nero vom Capitole herabgeflogen und nach Beschwörung der
ihm helfenden Dämonen durch den Apostel Paulus herabgestürzt lei, mit
Böttiger für einen gewandten Seilkünstlcr zu halten, möchte ich nicht wagen.
Vielleicht war es, wie das unter demselben Kaiser erwähnte unglückliche Beispiel
dei' Ikarus (Luel. ner. 11.), ein wirklicher Flugversuch des in der Mechanik
sehr-erfahrenen Zauberers. -- Am byzantinischen Hose erschien im 13. Jahr¬
hundert eine Seillänzerbande, welche, ursprünglich aus Aeghpten kommend,
das südliche und westliche Asien durchzogen und bereits von vierzig Personen
durch Unglücksfälle die Hälfte eingebüßt hatte. Sie spannten nach dem Hi-
storiographen Nicephornö Gregoras (Viti. 10.) ihre Seile zwischen Schiffs¬
masten ans, umwickelten letztere bis an die Spitze mit Tauen und stiegen
dann auf diesen Wendeltreppen an den Masten empor. Einer von ihnen
stellte sich auf die bloße Spitze des Mastes, bald ans einem Fuße, bald auf
dem Kopfe balancirend. Dann that er plötzlich einen weiten Sprung, ergriff
mit der einen Hand das Seil und drehte sich, wie ein wirbelndes Rad, um
dasselbe herum. Zuweilen faßte er das Seil auch mit dem Knie und machte
l" jene Radbewegung. Dann stellte er sich auf das Seil, nahm Pfeil und
Bogen, zielte und traf mit großer Sicherheit ein in der Ferne aufgestecktes
Ziel.l Endlich ging er mit verbundenen Augen und einen Knaben auf der
Schulter tragend von einem Maste zum andern.

Am Anfang unsers Jahrhunderts machten die mechanischen Scilschwinger
Brcitrücks und Erstens, Puppen in Lebensgröße, welche die künstlichsten Be¬
wegungen auf dem Seile ausführten, großes Aufsehen, und mancher unsrer


Blumenvasen, mehre Palmzweige stecken. Zwei Seiltänzer, mit Balancirstangen
versehen, haben eben das Ziel erreicht und sind im Begriffe, die Hände nach
dem Siegcspreise auszustrecken. Kein Unbefangener, der hie späte Zeit der
Entstehung dieser Münze, den Stolz der Cyzikencr auf die von ihnen prote-
girte Kunst und die überschwenglichen Belohnungen anderer untergeordneter
Künstler in der späteren Kaiserzeit erwägt, wird nun daran zweifeln, daß
jene Leute die Palmen für sich selbst herabholten. Böttiger dagegen, von der
hohen Bedeutung der Siegespalme in früherer Zeit erfüllt, leugnet es und
geräth dadurch in Widerspruch mit der eignen Abbildung der Münze. Am
Fuße der schwachen Gegenstützcn stehen nämlich noch je zwei Personen, welche
theils die Balken umfaßt haben, als wollten sie die Sicherheit des Gerüstes
vermehren, theils Gesten machen, als wollten sie die Stangen erklettern. Diese
Figuren hielt Böttiger für Klopffechter oder Athleten „in voller Arbeit deS
Faustkampfes begriffen", und für sie sollten jene armen Seiltänzer die Hand¬
langer der Palmen vorstellen! So schlägt oft eine vorgefaßte Meinung der
offenbaren Wahrheit ins Gesicht! — Den.aus der Apostelgeschichte bekannten
Magier Simon, von welchem die apokrvphische Kirchengeschichte erzählt, daß
er zu Rom unter Nero vom Capitole herabgeflogen und nach Beschwörung der
ihm helfenden Dämonen durch den Apostel Paulus herabgestürzt lei, mit
Böttiger für einen gewandten Seilkünstlcr zu halten, möchte ich nicht wagen.
Vielleicht war es, wie das unter demselben Kaiser erwähnte unglückliche Beispiel
dei' Ikarus (Luel. ner. 11.), ein wirklicher Flugversuch des in der Mechanik
sehr-erfahrenen Zauberers. — Am byzantinischen Hose erschien im 13. Jahr¬
hundert eine Seillänzerbande, welche, ursprünglich aus Aeghpten kommend,
das südliche und westliche Asien durchzogen und bereits von vierzig Personen
durch Unglücksfälle die Hälfte eingebüßt hatte. Sie spannten nach dem Hi-
storiographen Nicephornö Gregoras (Viti. 10.) ihre Seile zwischen Schiffs¬
masten ans, umwickelten letztere bis an die Spitze mit Tauen und stiegen
dann auf diesen Wendeltreppen an den Masten empor. Einer von ihnen
stellte sich auf die bloße Spitze des Mastes, bald ans einem Fuße, bald auf
dem Kopfe balancirend. Dann that er plötzlich einen weiten Sprung, ergriff
mit der einen Hand das Seil und drehte sich, wie ein wirbelndes Rad, um
dasselbe herum. Zuweilen faßte er das Seil auch mit dem Knie und machte
l» jene Radbewegung. Dann stellte er sich auf das Seil, nahm Pfeil und
Bogen, zielte und traf mit großer Sicherheit ein in der Ferne aufgestecktes
Ziel.l Endlich ging er mit verbundenen Augen und einen Knaben auf der
Schulter tragend von einem Maste zum andern.

Am Anfang unsers Jahrhunderts machten die mechanischen Scilschwinger
Brcitrücks und Erstens, Puppen in Lebensgröße, welche die künstlichsten Be¬
wegungen auf dem Seile ausführten, großes Aufsehen, und mancher unsrer


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[0109] Blumenvasen, mehre Palmzweige stecken. Zwei Seiltänzer, mit Balancirstangen versehen, haben eben das Ziel erreicht und sind im Begriffe, die Hände nach dem Siegcspreise auszustrecken. Kein Unbefangener, der hie späte Zeit der Entstehung dieser Münze, den Stolz der Cyzikencr auf die von ihnen prote- girte Kunst und die überschwenglichen Belohnungen anderer untergeordneter Künstler in der späteren Kaiserzeit erwägt, wird nun daran zweifeln, daß jene Leute die Palmen für sich selbst herabholten. Böttiger dagegen, von der hohen Bedeutung der Siegespalme in früherer Zeit erfüllt, leugnet es und geräth dadurch in Widerspruch mit der eignen Abbildung der Münze. Am Fuße der schwachen Gegenstützcn stehen nämlich noch je zwei Personen, welche theils die Balken umfaßt haben, als wollten sie die Sicherheit des Gerüstes vermehren, theils Gesten machen, als wollten sie die Stangen erklettern. Diese Figuren hielt Böttiger für Klopffechter oder Athleten „in voller Arbeit deS Faustkampfes begriffen", und für sie sollten jene armen Seiltänzer die Hand¬ langer der Palmen vorstellen! So schlägt oft eine vorgefaßte Meinung der offenbaren Wahrheit ins Gesicht! — Den.aus der Apostelgeschichte bekannten Magier Simon, von welchem die apokrvphische Kirchengeschichte erzählt, daß er zu Rom unter Nero vom Capitole herabgeflogen und nach Beschwörung der ihm helfenden Dämonen durch den Apostel Paulus herabgestürzt lei, mit Böttiger für einen gewandten Seilkünstlcr zu halten, möchte ich nicht wagen. Vielleicht war es, wie das unter demselben Kaiser erwähnte unglückliche Beispiel dei' Ikarus (Luel. ner. 11.), ein wirklicher Flugversuch des in der Mechanik sehr-erfahrenen Zauberers. — Am byzantinischen Hose erschien im 13. Jahr¬ hundert eine Seillänzerbande, welche, ursprünglich aus Aeghpten kommend, das südliche und westliche Asien durchzogen und bereits von vierzig Personen durch Unglücksfälle die Hälfte eingebüßt hatte. Sie spannten nach dem Hi- storiographen Nicephornö Gregoras (Viti. 10.) ihre Seile zwischen Schiffs¬ masten ans, umwickelten letztere bis an die Spitze mit Tauen und stiegen dann auf diesen Wendeltreppen an den Masten empor. Einer von ihnen stellte sich auf die bloße Spitze des Mastes, bald ans einem Fuße, bald auf dem Kopfe balancirend. Dann that er plötzlich einen weiten Sprung, ergriff mit der einen Hand das Seil und drehte sich, wie ein wirbelndes Rad, um dasselbe herum. Zuweilen faßte er das Seil auch mit dem Knie und machte l» jene Radbewegung. Dann stellte er sich auf das Seil, nahm Pfeil und Bogen, zielte und traf mit großer Sicherheit ein in der Ferne aufgestecktes Ziel.l Endlich ging er mit verbundenen Augen und einen Knaben auf der Schulter tragend von einem Maste zum andern. Am Anfang unsers Jahrhunderts machten die mechanischen Scilschwinger Brcitrücks und Erstens, Puppen in Lebensgröße, welche die künstlichsten Be¬ wegungen auf dem Seile ausführten, großes Aufsehen, und mancher unsrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/109>, abgerufen am 26.06.2024.