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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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zumuthen kann. sich auf einen historisch betrachtenden Standpunkt zu stellen,
und dem man daher nicht allein Schönes, sondern auch Wirksames bieten
muß, das und noch manches andere von der Mitwirkung gewisser Sänger,
von der Einrichtung des ganzen Programms, ja sogar von der Localität Ab¬
hängige wird dabei zu berücksichtigen sein. Eine unglücklichere Wahl als die
der oben genannten Cantate konnte nicht leicht getroffen werden. In Bezug
auf den Text mögen einige Auszüge zur Beweisführung genügen. So singt
der Baß: "Merkt und hört ihr Menschenkinder, was Gott selbst die Taufe
heißt. Es muß zwar hier Wasser sein, doch schlecht Wasser nicht allein," :c.
und der Alt: "Menschen glaubt doch dieser Gnade, daß ihr nicht in Sünden
sterbt, noch im Sündenpfuhl verderbt" in. und der Chor: "DaS Aug allein
das Wasser sieht, wie Menschen Wasser gießen, der Glaub allein die Kraft
versteht des Blutes Jesu Christi" :c. Indeß, was wird nicht alles gesungen'.?
Was aber die musikalische Wirkung betrifft, so konnte man sich höchstens
vom Chorale einige versprechen -- aber damit ist auch alles gesagt. Von
den drei aufeinanderfolgenden Arien hat die letzte, die Altarie, aus¬
drucksvollen Gesang bei leicht zu fassender Form, ohne jedoch von hervorragen¬
der Schönheit zu sein, die beiden andern können beim besten Vortrag nicht
wirken. Am stärksten tritt aber die Ungeschicklichkeit der Wahl bei dem Haupt¬
sätze, dem ersten Chor, hervor. Ueber einem kleinen Orchester, aus dem
Streichquartett und zwei Oboen bestehend, bewegt sich eine Sologeige auf con-
certirende Weise fort und wird besonders wichtig, wenn sie bei den verschiedenen
Einernten deS im Tenor liegenden, von den anderen Stimmen umsungenen
Chorals ganz allein den Chor gleichsam umschwebt. Mit Joachim als Solist
und einem Chor von etwa ein paar Dutzend Stimmen könnte diese Combi¬
nation eine schöne, ja poetische Wirkung machen. Wie war es aber hier?
Man hatte leicht herausgefunden, daß eine Geige nicht gegen i00 Sänger
aufkommen konnte, man hatte nun, um diesem Uebelstande zu begegnen, die
Solovioline vierfach besetzt und damit wenig erreicht in Beziehung auf die
dem Chor gegenüber nöthige Tonstärke, hingegen das Soloinstrument im
Orchester ausgehen lassen und so die Absicht Bachs ganz und gar vernichtet.
Dazu waren (wir wissen nicht von wem) auf alle guten Taktthcile der
Fortestellen starke Stöße des Blechorchesters hinzugesetzt, die gleich mit dem
ersten Takt begannen und vollends das Charakteristische der handhaben Jnstru-
mentationsweise gänzlich verwischten. Von irgendeinem Abheben oder feiner
berechnetem Vortrage der concertirenden Geigen den anderen gegenüber war
auch nicht die Rede; die einzige Bemerkung, die Liszt zu diesem Stücke machte,
war: "felsig, meine Herren, recht felsig." Das mag vielleicht (wir wollen es
nicht näher untersuchen) recht geistreich sein, aber fördernd für die Ausführung
war es nicht. Und dieser Einleitungöchor, der, nicht für die Kirche, .aber jeden-


zumuthen kann. sich auf einen historisch betrachtenden Standpunkt zu stellen,
und dem man daher nicht allein Schönes, sondern auch Wirksames bieten
muß, das und noch manches andere von der Mitwirkung gewisser Sänger,
von der Einrichtung des ganzen Programms, ja sogar von der Localität Ab¬
hängige wird dabei zu berücksichtigen sein. Eine unglücklichere Wahl als die
der oben genannten Cantate konnte nicht leicht getroffen werden. In Bezug
auf den Text mögen einige Auszüge zur Beweisführung genügen. So singt
der Baß: „Merkt und hört ihr Menschenkinder, was Gott selbst die Taufe
heißt. Es muß zwar hier Wasser sein, doch schlecht Wasser nicht allein," :c.
und der Alt: „Menschen glaubt doch dieser Gnade, daß ihr nicht in Sünden
sterbt, noch im Sündenpfuhl verderbt" in. und der Chor: „DaS Aug allein
das Wasser sieht, wie Menschen Wasser gießen, der Glaub allein die Kraft
versteht des Blutes Jesu Christi" :c. Indeß, was wird nicht alles gesungen'.?
Was aber die musikalische Wirkung betrifft, so konnte man sich höchstens
vom Chorale einige versprechen — aber damit ist auch alles gesagt. Von
den drei aufeinanderfolgenden Arien hat die letzte, die Altarie, aus¬
drucksvollen Gesang bei leicht zu fassender Form, ohne jedoch von hervorragen¬
der Schönheit zu sein, die beiden andern können beim besten Vortrag nicht
wirken. Am stärksten tritt aber die Ungeschicklichkeit der Wahl bei dem Haupt¬
sätze, dem ersten Chor, hervor. Ueber einem kleinen Orchester, aus dem
Streichquartett und zwei Oboen bestehend, bewegt sich eine Sologeige auf con-
certirende Weise fort und wird besonders wichtig, wenn sie bei den verschiedenen
Einernten deS im Tenor liegenden, von den anderen Stimmen umsungenen
Chorals ganz allein den Chor gleichsam umschwebt. Mit Joachim als Solist
und einem Chor von etwa ein paar Dutzend Stimmen könnte diese Combi¬
nation eine schöne, ja poetische Wirkung machen. Wie war es aber hier?
Man hatte leicht herausgefunden, daß eine Geige nicht gegen i00 Sänger
aufkommen konnte, man hatte nun, um diesem Uebelstande zu begegnen, die
Solovioline vierfach besetzt und damit wenig erreicht in Beziehung auf die
dem Chor gegenüber nöthige Tonstärke, hingegen das Soloinstrument im
Orchester ausgehen lassen und so die Absicht Bachs ganz und gar vernichtet.
Dazu waren (wir wissen nicht von wem) auf alle guten Taktthcile der
Fortestellen starke Stöße des Blechorchesters hinzugesetzt, die gleich mit dem
ersten Takt begannen und vollends das Charakteristische der handhaben Jnstru-
mentationsweise gänzlich verwischten. Von irgendeinem Abheben oder feiner
berechnetem Vortrage der concertirenden Geigen den anderen gegenüber war
auch nicht die Rede; die einzige Bemerkung, die Liszt zu diesem Stücke machte,
war: „felsig, meine Herren, recht felsig." Das mag vielleicht (wir wollen es
nicht näher untersuchen) recht geistreich sein, aber fördernd für die Ausführung
war es nicht. Und dieser Einleitungöchor, der, nicht für die Kirche, .aber jeden-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/53>, abgerufen am 12.12.2024.