Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.Anders verhielt eS sich mit der handhaben Cantate. Die Aufführung Anders verhielt eS sich mit der handhaben Cantate. Die Aufführung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0052" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104253"/> <p xml:id="ID_133" next="#ID_134"> Anders verhielt eS sich mit der handhaben Cantate. Die Aufführung<lb/> bachscher Vocalwerke durch große musikalische Kräfte bietet, zumal einem großen<lb/> gemischten Publicum gegenüber, bedeutende Schwierigkeiten. Die große Passions-<lb/> musik nach dem Ev. Matth. wird wol immer dasjenige bleiben, welches durch<lb/> seinen theilweise dramatischen Charakter dem Publicum am zugänglichsten ist,<lb/> aber sein erhabener Stoff steht doch einer Aufführung bei vielen Gelegen¬<lb/> heiten und namentlich am heiteren Pftngstfeste entgegen. Mit den Kirchencantaten<lb/> hat eS nun vollends eine eigene Bewandtniß. Der große Meister schrieb die¬<lb/> selben weder als ZukunftSmusiker, obschon er einer der Wenigen ist, die man<lb/> im Ernste so bezeichnen kann, noch um sich einen europäischen Namen zu<lb/> machen, noch um bei den jedesmaligen Aufführungen Lob und Ruhm zu ern¬<lb/> ten. Er schrieb sie, um den Pflichten seiner Stellung als Cantor oder<lb/> Kirchencomponist nachzukommen und zu gleicher Zeit seinen tiefsten religiösen<lb/> und musikalischen Anregungen einen Ausdruck zu geben. Die Mittel zur Aus¬<lb/> führung, die ihm dabei zu Gebote gestanden, waren, wenn nicht der Qualität,<lb/> doch jedenfalls der Quantität nach gering. Die selbstständige Führung jedes<lb/> einzelnen Blasinstrumentes, welches der Meister verwendet, beweist (wenn man<lb/> nicht dem großen Tondichter die allergewöhnlichste musikalische Erfahrung ab¬<lb/> sprechen will), daß dasselbe weder von einer großen Anzahl Streicher, noch von<lb/> einer großen Chormasse erdrückt werden konnte, die einzelnen Stimmen, instru¬<lb/> mentale wie Vocale, müssen alle wenigstens deutlich herauskommen, wenn den<lb/> Jntensionen des Componisten Genüge geschehen soll. Ferner können viele der<lb/> zu Bachs Zeit gebräuchlichen Kirchenlieder uns durchaus nicht mehr munden. —<lb/> Die ihm zu Gebote stehenden Dichter sind vollends in einer so erschrecklich<lb/> prosaischen Zopfmanier befangen, daß ihre Producte uns nahezu unausstehlich<lb/> erscheinen. Sehr oft macht einem freilich die handhabe Musik jedweden Tert ver¬<lb/> gessen— andere Mal hat der Altmeister Bibelterte benutzt und dann vereinigen<lb/> sich Wort und Ton zum erhabensten, sich durchdringenden Ausdruck. Für das<lb/> Studium des Kunstjüngers werden die geringsten handhaben Tonwerke von<lb/> großem Interesse sein — Gesangvereine, die sich ihrer Ausgabe mit Ausdauer<lb/> und Liebe zuwenden, werden einen unerschöpflichen Ouell der Bildung und<lb/> des Genusses in diesen Cantaten finden — aber bei Aufführungen durch<lb/> Massen vor Massen wird man bei der Wahl sehr vorsichtig zu Werke gehen<lb/> müssen. Prüfung des Textes, genaueste Untersuchung, bis zu welchem Grade<lb/> die Deutlichkeit der musikalischen Einzelnheiten nicht unter der Wucht der viel¬<lb/> fach besetzter! Stimmen zu leiden habe, Ausscheiden der Arien, deren Form<lb/> und melodische Behandlung uns zu ferne steht, sehr discrete Anwendung der¬<lb/> jenigen Jnstrumentationömittel, durch welche der bei Bach stets vorausgesetzte<lb/> Gebrauch der Orgel entbehrlich wird — und schließlich Rücksicht auf das Auf¬<lb/> fassungsvermögen des großen Publicums, dem man bei einem Musikfest nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0052]
Anders verhielt eS sich mit der handhaben Cantate. Die Aufführung
bachscher Vocalwerke durch große musikalische Kräfte bietet, zumal einem großen
gemischten Publicum gegenüber, bedeutende Schwierigkeiten. Die große Passions-
musik nach dem Ev. Matth. wird wol immer dasjenige bleiben, welches durch
seinen theilweise dramatischen Charakter dem Publicum am zugänglichsten ist,
aber sein erhabener Stoff steht doch einer Aufführung bei vielen Gelegen¬
heiten und namentlich am heiteren Pftngstfeste entgegen. Mit den Kirchencantaten
hat eS nun vollends eine eigene Bewandtniß. Der große Meister schrieb die¬
selben weder als ZukunftSmusiker, obschon er einer der Wenigen ist, die man
im Ernste so bezeichnen kann, noch um sich einen europäischen Namen zu
machen, noch um bei den jedesmaligen Aufführungen Lob und Ruhm zu ern¬
ten. Er schrieb sie, um den Pflichten seiner Stellung als Cantor oder
Kirchencomponist nachzukommen und zu gleicher Zeit seinen tiefsten religiösen
und musikalischen Anregungen einen Ausdruck zu geben. Die Mittel zur Aus¬
führung, die ihm dabei zu Gebote gestanden, waren, wenn nicht der Qualität,
doch jedenfalls der Quantität nach gering. Die selbstständige Führung jedes
einzelnen Blasinstrumentes, welches der Meister verwendet, beweist (wenn man
nicht dem großen Tondichter die allergewöhnlichste musikalische Erfahrung ab¬
sprechen will), daß dasselbe weder von einer großen Anzahl Streicher, noch von
einer großen Chormasse erdrückt werden konnte, die einzelnen Stimmen, instru¬
mentale wie Vocale, müssen alle wenigstens deutlich herauskommen, wenn den
Jntensionen des Componisten Genüge geschehen soll. Ferner können viele der
zu Bachs Zeit gebräuchlichen Kirchenlieder uns durchaus nicht mehr munden. —
Die ihm zu Gebote stehenden Dichter sind vollends in einer so erschrecklich
prosaischen Zopfmanier befangen, daß ihre Producte uns nahezu unausstehlich
erscheinen. Sehr oft macht einem freilich die handhabe Musik jedweden Tert ver¬
gessen— andere Mal hat der Altmeister Bibelterte benutzt und dann vereinigen
sich Wort und Ton zum erhabensten, sich durchdringenden Ausdruck. Für das
Studium des Kunstjüngers werden die geringsten handhaben Tonwerke von
großem Interesse sein — Gesangvereine, die sich ihrer Ausgabe mit Ausdauer
und Liebe zuwenden, werden einen unerschöpflichen Ouell der Bildung und
des Genusses in diesen Cantaten finden — aber bei Aufführungen durch
Massen vor Massen wird man bei der Wahl sehr vorsichtig zu Werke gehen
müssen. Prüfung des Textes, genaueste Untersuchung, bis zu welchem Grade
die Deutlichkeit der musikalischen Einzelnheiten nicht unter der Wucht der viel¬
fach besetzter! Stimmen zu leiden habe, Ausscheiden der Arien, deren Form
und melodische Behandlung uns zu ferne steht, sehr discrete Anwendung der¬
jenigen Jnstrumentationömittel, durch welche der bei Bach stets vorausgesetzte
Gebrauch der Orgel entbehrlich wird — und schließlich Rücksicht auf das Auf¬
fassungsvermögen des großen Publicums, dem man bei einem Musikfest nicht
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