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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Jedes Wesen hat seine Bestimmung, die ihm eigenthümlich ist und zu de¬
ren Erreichung seine Organisation eingerichtet ist. Ebenso hat die ganze
Schöpfung ihre Bestimmung; und die einzelnen Endzwecke aller Wesen sind
die Mittel, durch deren Verbindung der Endzweck deö Weltalls erfüllt wird.
Die Bestimmung eines Wesens ist zugleich sein Wohl, und daS Wohl jedes
Einzelnen gehört also zur Bestimmung der ganzen Schöpfung. ES legt allen
Uebrigen eine Verpflichtung aus. Die Bestimmung des Menschen ist auf der
Erde nur insoweit zu erreichen, als sie ganz von seinem Willen abhängig ist.
Ganz abhängig von seinem Willen ist auf Erden aber nur die Tugend; die
Tugend ist also auf Erden seine Bestimmung. Zugleich ist es aber nothwen¬
dig, weil damit seine Bestimmung nicht erschöpft wird, daß ein zweites Leben
sie ergänzt. La nature etriz incliqrre s-r cZe^limze. 0r, Jer rükt,u>'ö cle
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vie-s an nous pouirons les conlentgr. Der Trugschluß springt in die Augen.
Jouffroy hat sich aus dem Gebiete der Philosophie in das der Theologie be¬
geben. Wenn er unter der Bestimmung eines Wesens ursprünglich nur den
Inbegriff seiner Natur versteht, die durch äußere Einwirkungen in ihrer Ent¬
wickelung aufgehoben und selbst vernichtet werden kann, so wird später der
Wille eines allmächtigen Wesens daraus, der nothwendig durchgeführt werden
muß. Ueber die Absichten Gottes kann aber wol der Theolog mitsprechen, für
den beiläufig die Wege der Vorsehung geheimnißvoll sind, nicht aber der Phi¬
losoph, der sich keiner unmittelbaren Offenbarung erfreut. Den Dogmen deS
Christenthums hatte sich Jouffroy durch sein Nachdenken entrissen, seine Stim¬
mung war ihm aber geblieben, und sie hat ihn durch das Mittel der Abstrac-
tion und Verallgemeinerung zu unhaltbaren Schlüssen verleitet. Die Zweifel
des Herzens hat er in ergreifender Wahrheit geschildert, und er ist darin ebenso
wie die Lyriker eine bemerkenswerthe Stimme seiner Zeit. Die Lösung zu
finden war ihm versagt, und die Kirche war von ihrem Standpunkt aus nicht
im Unrecht, wenn sie die Hülfe dieser zweifelhaften Dialektik verschmähte.

Eine so zurückhaltende und abgeschlossene Natur schien eigentlich zu einer
konservativen Stellung bestimmt und am wenigsten zur Propaganda geeignet,
da sie selber noch im Suchen begriffen war und dem Volk kein neues Evan¬
gelium verkündigen konnte. Dennoch trieben ihn die Umstände in die Oppo¬
sition. Nachdem die Nvrmalschule 1822 aufgehoben wurde, veranstaltete er
Privatvorlesnngcn, zu denen sich eine sehr beträchtliche Anzahl von Zuhörern
fand. Im folgenden Jahre schrieb er eine Abhandlung : ('vaincre l"zö elogmLS
finiZserit, eine scharfsinnige Analyse, in welcher der naive Ursprung der reli¬
giösen Vorstellungen, ihre Fortbildung durch die Tradition und ihre allmälige
Abschwächung durch die philosophische Eregese beinahe in der deutschen Me-


Jedes Wesen hat seine Bestimmung, die ihm eigenthümlich ist und zu de¬
ren Erreichung seine Organisation eingerichtet ist. Ebenso hat die ganze
Schöpfung ihre Bestimmung; und die einzelnen Endzwecke aller Wesen sind
die Mittel, durch deren Verbindung der Endzweck deö Weltalls erfüllt wird.
Die Bestimmung eines Wesens ist zugleich sein Wohl, und daS Wohl jedes
Einzelnen gehört also zur Bestimmung der ganzen Schöpfung. ES legt allen
Uebrigen eine Verpflichtung aus. Die Bestimmung des Menschen ist auf der
Erde nur insoweit zu erreichen, als sie ganz von seinem Willen abhängig ist.
Ganz abhängig von seinem Willen ist auf Erden aber nur die Tugend; die
Tugend ist also auf Erden seine Bestimmung. Zugleich ist es aber nothwen¬
dig, weil damit seine Bestimmung nicht erschöpft wird, daß ein zweites Leben
sie ergänzt. La nature etriz incliqrre s-r cZe^limze. 0r, Jer rükt,u>'ö cle
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vie-s an nous pouirons les conlentgr. Der Trugschluß springt in die Augen.
Jouffroy hat sich aus dem Gebiete der Philosophie in das der Theologie be¬
geben. Wenn er unter der Bestimmung eines Wesens ursprünglich nur den
Inbegriff seiner Natur versteht, die durch äußere Einwirkungen in ihrer Ent¬
wickelung aufgehoben und selbst vernichtet werden kann, so wird später der
Wille eines allmächtigen Wesens daraus, der nothwendig durchgeführt werden
muß. Ueber die Absichten Gottes kann aber wol der Theolog mitsprechen, für
den beiläufig die Wege der Vorsehung geheimnißvoll sind, nicht aber der Phi¬
losoph, der sich keiner unmittelbaren Offenbarung erfreut. Den Dogmen deS
Christenthums hatte sich Jouffroy durch sein Nachdenken entrissen, seine Stim¬
mung war ihm aber geblieben, und sie hat ihn durch das Mittel der Abstrac-
tion und Verallgemeinerung zu unhaltbaren Schlüssen verleitet. Die Zweifel
des Herzens hat er in ergreifender Wahrheit geschildert, und er ist darin ebenso
wie die Lyriker eine bemerkenswerthe Stimme seiner Zeit. Die Lösung zu
finden war ihm versagt, und die Kirche war von ihrem Standpunkt aus nicht
im Unrecht, wenn sie die Hülfe dieser zweifelhaften Dialektik verschmähte.

Eine so zurückhaltende und abgeschlossene Natur schien eigentlich zu einer
konservativen Stellung bestimmt und am wenigsten zur Propaganda geeignet,
da sie selber noch im Suchen begriffen war und dem Volk kein neues Evan¬
gelium verkündigen konnte. Dennoch trieben ihn die Umstände in die Oppo¬
sition. Nachdem die Nvrmalschule 1822 aufgehoben wurde, veranstaltete er
Privatvorlesnngcn, zu denen sich eine sehr beträchtliche Anzahl von Zuhörern
fand. Im folgenden Jahre schrieb er eine Abhandlung : ('vaincre l«zö elogmLS
finiZserit, eine scharfsinnige Analyse, in welcher der naive Ursprung der reli¬
giösen Vorstellungen, ihre Fortbildung durch die Tradition und ihre allmälige
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[0444] Jedes Wesen hat seine Bestimmung, die ihm eigenthümlich ist und zu de¬ ren Erreichung seine Organisation eingerichtet ist. Ebenso hat die ganze Schöpfung ihre Bestimmung; und die einzelnen Endzwecke aller Wesen sind die Mittel, durch deren Verbindung der Endzweck deö Weltalls erfüllt wird. Die Bestimmung eines Wesens ist zugleich sein Wohl, und daS Wohl jedes Einzelnen gehört also zur Bestimmung der ganzen Schöpfung. ES legt allen Uebrigen eine Verpflichtung aus. Die Bestimmung des Menschen ist auf der Erde nur insoweit zu erreichen, als sie ganz von seinem Willen abhängig ist. Ganz abhängig von seinem Willen ist auf Erden aber nur die Tugend; die Tugend ist also auf Erden seine Bestimmung. Zugleich ist es aber nothwen¬ dig, weil damit seine Bestimmung nicht erschöpft wird, daß ein zweites Leben sie ergänzt. La nature etriz incliqrre s-r cZe^limze. 0r, Jer rükt,u>'ö cle 1'Iiomme est, composvö H'uspirations lui'wjks c^ne nvtrs oonclition piLSöitts us peut «atlslaire: (Zone it a pour nous une <Zö8l>iue<z future, et un<z seris als vie-s an nous pouirons les conlentgr. Der Trugschluß springt in die Augen. Jouffroy hat sich aus dem Gebiete der Philosophie in das der Theologie be¬ geben. Wenn er unter der Bestimmung eines Wesens ursprünglich nur den Inbegriff seiner Natur versteht, die durch äußere Einwirkungen in ihrer Ent¬ wickelung aufgehoben und selbst vernichtet werden kann, so wird später der Wille eines allmächtigen Wesens daraus, der nothwendig durchgeführt werden muß. Ueber die Absichten Gottes kann aber wol der Theolog mitsprechen, für den beiläufig die Wege der Vorsehung geheimnißvoll sind, nicht aber der Phi¬ losoph, der sich keiner unmittelbaren Offenbarung erfreut. Den Dogmen deS Christenthums hatte sich Jouffroy durch sein Nachdenken entrissen, seine Stim¬ mung war ihm aber geblieben, und sie hat ihn durch das Mittel der Abstrac- tion und Verallgemeinerung zu unhaltbaren Schlüssen verleitet. Die Zweifel des Herzens hat er in ergreifender Wahrheit geschildert, und er ist darin ebenso wie die Lyriker eine bemerkenswerthe Stimme seiner Zeit. Die Lösung zu finden war ihm versagt, und die Kirche war von ihrem Standpunkt aus nicht im Unrecht, wenn sie die Hülfe dieser zweifelhaften Dialektik verschmähte. Eine so zurückhaltende und abgeschlossene Natur schien eigentlich zu einer konservativen Stellung bestimmt und am wenigsten zur Propaganda geeignet, da sie selber noch im Suchen begriffen war und dem Volk kein neues Evan¬ gelium verkündigen konnte. Dennoch trieben ihn die Umstände in die Oppo¬ sition. Nachdem die Nvrmalschule 1822 aufgehoben wurde, veranstaltete er Privatvorlesnngcn, zu denen sich eine sehr beträchtliche Anzahl von Zuhörern fand. Im folgenden Jahre schrieb er eine Abhandlung : ('vaincre l«zö elogmLS finiZserit, eine scharfsinnige Analyse, in welcher der naive Ursprung der reli¬ giösen Vorstellungen, ihre Fortbildung durch die Tradition und ihre allmälige Abschwächung durch die philosophische Eregese beinahe in der deutschen Me-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/444>, abgerufen am 24.08.2024.