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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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öffnet, ihnen eine solche eventuelle Bettlerpsründe als ihr Recht zugesteht: so
wird man die Quelle des Elends, anstatt sie zu verstopfen, nur noch mehr
verstärken. Denn wenn schon die leider nur zu oft gehegte und begründete
Vorstellung demoralisüend auf den Aibeiler willt: daß ihm seine Anstrengung,
sein Fleiß doch höchstens nur die Mittel zur Befriedigung deS augenblicklichen
Bedürfnisses, aber nicht die mindeste Sicherung für alte und kranke Tage ge¬
währt: so müßte die Gedankenlosigkeit, das blind in den Tag Hineinleben
bei ihm sich in erschreckendem Maße steigern, wenn man jener Vorstellung
durch Verallgemeinerung der fraglichen Anstalten die öff^ulliche Sanction und
zugleich eine höchst bequeme Unterlage eriheilte. Bald würde die Masse der
Unlcrstütz"ngSbedü>frigen° eiiien Haupttheil der Bevölkerung ausmachen und
die für sie erforderlichen Mittel den Wohlstand des ganze" Landes verschlingen,
wovon uns das schon gegenwärtig ungeheure Anwachsen der Armrntaren in
manchen Ländern ein schwaches Porspiel bietet. Am besten aber können wir
uns über die unheilvollen Folgen dieser Richtung in dem Lande unterrichten,
wo bisher das Meiste dafür geschehen ist, in Belgien. Eine blühende Fabrik-
industrie verbunden mit dem Darniederliegen deö Kleingewerbes hat hier große
Müssen von Lohnarbeitern angehäuft, und trotz der technischen Brauchbarkeit
der Leute, zeigen dieselben, im Verhältniß zu den englischen, französischen
und deutsche" Arbeuern, in ihren Bestrebungen sich aufzuhelfen, wenig Ener¬
gie, nicht te" vorherrschende" Drang zur Selbststänmgkeit, wie jene. So
hören wir aus Belgien fast nur von Unternehmungen der Regierung, der
Vereine und Siifluugen, um der Noth und Enisilllichnng der Aibnter vor¬
zubeugen, aber hellen oder nie von einer That der Athener selbst auf diesem
Felde. Vielmehr scheine" dieselbe" jene Bevormundung deS Staats, der be¬
sitzenden Classen und der Kirche -- wie viel "ameiulich die unter den niederen
Volkeclasstu allmächtige Kirche zu buser Lebenshaltung beigetragen, kann hier
nur angedeutet werde" -- als etwas Selbstverständliches nur so hinzunehmen.
Dies mach! den" de" Boden für die ganze Oiganisaiion besonders geeignet.
Auf der einen Seile Leute, welche die fragliche Obsorge, als Stütze ihrer
gesellschaftlichen, politischen und geistliche" Superiorität, als Recht und Pflicht
in Anspruch nehmen, und nebst der Macht auch mit den Mittel" dazu reichlich
ausgestaltet sind, auf der andern Seile eine für jede solche Einwükung empfäng¬
liche Masse, welche die Leitung von oben, insofern sie namentlich die Kosten
trägt, bestens accrptirt. Aber was war bisher das Resultat aller dieser im
In- und Auslande so sehr zur Schau getragenen Bienfaisance, welche den
Mittelpunkt jener jährlichen großen Congresse bildet, zu welchen sich wohl¬
meinende Männer aus ganz Europa vereinen, um von der belgischen Mustcr-
orgainsation zu prcfiiiren?-- daß der Pauperismus in so emsetzlichem Maße
zunimmt, daß die vorhandenen kolossalen Mittel immer weniger, selbst für


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öffnet, ihnen eine solche eventuelle Bettlerpsründe als ihr Recht zugesteht: so
wird man die Quelle des Elends, anstatt sie zu verstopfen, nur noch mehr
verstärken. Denn wenn schon die leider nur zu oft gehegte und begründete
Vorstellung demoralisüend auf den Aibeiler willt: daß ihm seine Anstrengung,
sein Fleiß doch höchstens nur die Mittel zur Befriedigung deS augenblicklichen
Bedürfnisses, aber nicht die mindeste Sicherung für alte und kranke Tage ge¬
währt: so müßte die Gedankenlosigkeit, das blind in den Tag Hineinleben
bei ihm sich in erschreckendem Maße steigern, wenn man jener Vorstellung
durch Verallgemeinerung der fraglichen Anstalten die öff^ulliche Sanction und
zugleich eine höchst bequeme Unterlage eriheilte. Bald würde die Masse der
Unlcrstütz»ngSbedü>frigen° eiiien Haupttheil der Bevölkerung ausmachen und
die für sie erforderlichen Mittel den Wohlstand des ganze» Landes verschlingen,
wovon uns das schon gegenwärtig ungeheure Anwachsen der Armrntaren in
manchen Ländern ein schwaches Porspiel bietet. Am besten aber können wir
uns über die unheilvollen Folgen dieser Richtung in dem Lande unterrichten,
wo bisher das Meiste dafür geschehen ist, in Belgien. Eine blühende Fabrik-
industrie verbunden mit dem Darniederliegen deö Kleingewerbes hat hier große
Müssen von Lohnarbeitern angehäuft, und trotz der technischen Brauchbarkeit
der Leute, zeigen dieselben, im Verhältniß zu den englischen, französischen
und deutsche» Arbeuern, in ihren Bestrebungen sich aufzuhelfen, wenig Ener¬
gie, nicht te» vorherrschende» Drang zur Selbststänmgkeit, wie jene. So
hören wir aus Belgien fast nur von Unternehmungen der Regierung, der
Vereine und Siifluugen, um der Noth und Enisilllichnng der Aibnter vor¬
zubeugen, aber hellen oder nie von einer That der Athener selbst auf diesem
Felde. Vielmehr scheine» dieselbe» jene Bevormundung deS Staats, der be¬
sitzenden Classen und der Kirche — wie viel »ameiulich die unter den niederen
Volkeclasstu allmächtige Kirche zu buser Lebenshaltung beigetragen, kann hier
nur angedeutet werde» — als etwas Selbstverständliches nur so hinzunehmen.
Dies mach! den» de» Boden für die ganze Oiganisaiion besonders geeignet.
Auf der einen Seile Leute, welche die fragliche Obsorge, als Stütze ihrer
gesellschaftlichen, politischen und geistliche» Superiorität, als Recht und Pflicht
in Anspruch nehmen, und nebst der Macht auch mit den Mittel» dazu reichlich
ausgestaltet sind, auf der andern Seile eine für jede solche Einwükung empfäng¬
liche Masse, welche die Leitung von oben, insofern sie namentlich die Kosten
trägt, bestens accrptirt. Aber was war bisher das Resultat aller dieser im
In- und Auslande so sehr zur Schau getragenen Bienfaisance, welche den
Mittelpunkt jener jährlichen großen Congresse bildet, zu welchen sich wohl¬
meinende Männer aus ganz Europa vereinen, um von der belgischen Mustcr-
orgainsation zu prcfiiiren?— daß der Pauperismus in so emsetzlichem Maße
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/419>, abgerufen am 22.07.2024.