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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Wie gesagt, alle solche Umstände befreien die indische Verwaltung nicht von
dem Vorwürfe grober Vernachlässigung oder mindestens Mangels an Thatkraft,
und das um so mehr, als die Spuren der Einsicht in die wahre Sachlage unver¬
kennbar vorliegen. Wir verweisen auf die kurz vorher angeführte Befürchtung
des Lord Hardinge, eines tapfern Haudegens, aber" nichts weniger als geistig
hoch stehenden Mannes. Selbst aus bekannt gewordenen Aeußerungen des
jetzigen Generalgvuvernenrs Lord Canning geht hervor, daß er den Zuständen
mißtraute. Er war gegen die Verminderung des europäischen Heeres zum Zweck
der chinesischen und persischen Kriegführung, und er verlangte eine Vermehrung
der Zahl der Engländer im bengalischen Heere. Die Truppcnvcrmehrung ward
ihm zugesagt, auch in London vorbereitet, aber in gewohnter Weise die Aus¬
führung der Maßregel verschleppt; gegen die Vergrößerung deS englischen
Offiziercorps hatte der englische Directorialhvf sehr unzeitige Sparsamkeits¬
gründe einzuwenden. Selbst eine so nahe liegende Maßregel, wie die Besetzung
der durch historische Erinnerungen, sowie dnrch die L>rge und den Umfang an
militärischen Vorräthen so wichtigen Stadt Delhi durch europäische Truppen
geschah nicht, vielleicht weil der direct von London aus eingesetzte Oberbefehls¬
haber deS indischen Heeres wiederum in ziemlich coordinirter Stellung zum
Generalgouvemeur steht, und es ist bezeichnend, daß dem zu Anfang des Aus-
bruchs an der Cholera verstorbenen General Anson anglo-indische Blätter den
Nachruf weihten, sein Tod zu dieser Zeit sei einer der besonderen Glückszufälle
der ostindischen Gesellschaft.

So lag denn im entscheidenden Moment durch Trägheit, durch Routine
und durch Unverstand alles am verkehrten Platz, und so geschah daS Uner¬
wartete in der allerüberraschendsten Weise und zwar nicht blos für die Europäer,
sonder" wie wir meinen, auch für den größten Theil der Sipoys selbst. Wir
halten eS nämlich den Ergebnissen einer sorgfältigern Untersuchung nicht für
entsprechend, anzunehmen, daß der Abfall des bengalischen Heeres, so wie er
vorgekommen, daS Werk einer förmlichen Verschwörung gewesen ist, sind viel¬
mehr der Ansicht, daß Absicht und Zufall zusammen zum Ergebniß jener Auf¬
lösung eines ganzen, großen Heeres in ein Nichts geführt haben. Die
Sipoys hatten wiederholt an sich selbst die Schwäche und Nachgiebigkeit
der Negierung erfahren, und es scheint, daß Lord Canning von dem all¬
gemeinen Vorurtheil zu ihren Gunsten am wenigsten frei gewesen ist, kleine
Meutereien, wie sie eigentlich immer vorgekommen waren, wurden kaum noch
beachtet, oder mit der freundlichsten Nachgiebigkeit in die jeweiligen Launen der
vornehmen Braminen belohnt, größere Vergehen aber sehr gelinde gesühnt.---
Den Sipoys drängte sich 'von selbst daS Bewußtsein der Schwäche ihrer
Herrscher und der eignen Stärke auf, und das in einem Moment, wo durch
unglückliche Verwicklungen die Furcht vor einem Bekehrungszwang im beuga-


Wie gesagt, alle solche Umstände befreien die indische Verwaltung nicht von
dem Vorwürfe grober Vernachlässigung oder mindestens Mangels an Thatkraft,
und das um so mehr, als die Spuren der Einsicht in die wahre Sachlage unver¬
kennbar vorliegen. Wir verweisen auf die kurz vorher angeführte Befürchtung
des Lord Hardinge, eines tapfern Haudegens, aber" nichts weniger als geistig
hoch stehenden Mannes. Selbst aus bekannt gewordenen Aeußerungen des
jetzigen Generalgvuvernenrs Lord Canning geht hervor, daß er den Zuständen
mißtraute. Er war gegen die Verminderung des europäischen Heeres zum Zweck
der chinesischen und persischen Kriegführung, und er verlangte eine Vermehrung
der Zahl der Engländer im bengalischen Heere. Die Truppcnvcrmehrung ward
ihm zugesagt, auch in London vorbereitet, aber in gewohnter Weise die Aus¬
führung der Maßregel verschleppt; gegen die Vergrößerung deS englischen
Offiziercorps hatte der englische Directorialhvf sehr unzeitige Sparsamkeits¬
gründe einzuwenden. Selbst eine so nahe liegende Maßregel, wie die Besetzung
der durch historische Erinnerungen, sowie dnrch die L>rge und den Umfang an
militärischen Vorräthen so wichtigen Stadt Delhi durch europäische Truppen
geschah nicht, vielleicht weil der direct von London aus eingesetzte Oberbefehls¬
haber deS indischen Heeres wiederum in ziemlich coordinirter Stellung zum
Generalgouvemeur steht, und es ist bezeichnend, daß dem zu Anfang des Aus-
bruchs an der Cholera verstorbenen General Anson anglo-indische Blätter den
Nachruf weihten, sein Tod zu dieser Zeit sei einer der besonderen Glückszufälle
der ostindischen Gesellschaft.

So lag denn im entscheidenden Moment durch Trägheit, durch Routine
und durch Unverstand alles am verkehrten Platz, und so geschah daS Uner¬
wartete in der allerüberraschendsten Weise und zwar nicht blos für die Europäer,
sonder» wie wir meinen, auch für den größten Theil der Sipoys selbst. Wir
halten eS nämlich den Ergebnissen einer sorgfältigern Untersuchung nicht für
entsprechend, anzunehmen, daß der Abfall des bengalischen Heeres, so wie er
vorgekommen, daS Werk einer förmlichen Verschwörung gewesen ist, sind viel¬
mehr der Ansicht, daß Absicht und Zufall zusammen zum Ergebniß jener Auf¬
lösung eines ganzen, großen Heeres in ein Nichts geführt haben. Die
Sipoys hatten wiederholt an sich selbst die Schwäche und Nachgiebigkeit
der Negierung erfahren, und es scheint, daß Lord Canning von dem all¬
gemeinen Vorurtheil zu ihren Gunsten am wenigsten frei gewesen ist, kleine
Meutereien, wie sie eigentlich immer vorgekommen waren, wurden kaum noch
beachtet, oder mit der freundlichsten Nachgiebigkeit in die jeweiligen Launen der
vornehmen Braminen belohnt, größere Vergehen aber sehr gelinde gesühnt.—-
Den Sipoys drängte sich 'von selbst daS Bewußtsein der Schwäche ihrer
Herrscher und der eignen Stärke auf, und das in einem Moment, wo durch
unglückliche Verwicklungen die Furcht vor einem Bekehrungszwang im beuga-


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[0392] Wie gesagt, alle solche Umstände befreien die indische Verwaltung nicht von dem Vorwürfe grober Vernachlässigung oder mindestens Mangels an Thatkraft, und das um so mehr, als die Spuren der Einsicht in die wahre Sachlage unver¬ kennbar vorliegen. Wir verweisen auf die kurz vorher angeführte Befürchtung des Lord Hardinge, eines tapfern Haudegens, aber" nichts weniger als geistig hoch stehenden Mannes. Selbst aus bekannt gewordenen Aeußerungen des jetzigen Generalgvuvernenrs Lord Canning geht hervor, daß er den Zuständen mißtraute. Er war gegen die Verminderung des europäischen Heeres zum Zweck der chinesischen und persischen Kriegführung, und er verlangte eine Vermehrung der Zahl der Engländer im bengalischen Heere. Die Truppcnvcrmehrung ward ihm zugesagt, auch in London vorbereitet, aber in gewohnter Weise die Aus¬ führung der Maßregel verschleppt; gegen die Vergrößerung deS englischen Offiziercorps hatte der englische Directorialhvf sehr unzeitige Sparsamkeits¬ gründe einzuwenden. Selbst eine so nahe liegende Maßregel, wie die Besetzung der durch historische Erinnerungen, sowie dnrch die L>rge und den Umfang an militärischen Vorräthen so wichtigen Stadt Delhi durch europäische Truppen geschah nicht, vielleicht weil der direct von London aus eingesetzte Oberbefehls¬ haber deS indischen Heeres wiederum in ziemlich coordinirter Stellung zum Generalgouvemeur steht, und es ist bezeichnend, daß dem zu Anfang des Aus- bruchs an der Cholera verstorbenen General Anson anglo-indische Blätter den Nachruf weihten, sein Tod zu dieser Zeit sei einer der besonderen Glückszufälle der ostindischen Gesellschaft. So lag denn im entscheidenden Moment durch Trägheit, durch Routine und durch Unverstand alles am verkehrten Platz, und so geschah daS Uner¬ wartete in der allerüberraschendsten Weise und zwar nicht blos für die Europäer, sonder» wie wir meinen, auch für den größten Theil der Sipoys selbst. Wir halten eS nämlich den Ergebnissen einer sorgfältigern Untersuchung nicht für entsprechend, anzunehmen, daß der Abfall des bengalischen Heeres, so wie er vorgekommen, daS Werk einer förmlichen Verschwörung gewesen ist, sind viel¬ mehr der Ansicht, daß Absicht und Zufall zusammen zum Ergebniß jener Auf¬ lösung eines ganzen, großen Heeres in ein Nichts geführt haben. Die Sipoys hatten wiederholt an sich selbst die Schwäche und Nachgiebigkeit der Negierung erfahren, und es scheint, daß Lord Canning von dem all¬ gemeinen Vorurtheil zu ihren Gunsten am wenigsten frei gewesen ist, kleine Meutereien, wie sie eigentlich immer vorgekommen waren, wurden kaum noch beachtet, oder mit der freundlichsten Nachgiebigkeit in die jeweiligen Launen der vornehmen Braminen belohnt, größere Vergehen aber sehr gelinde gesühnt.—- Den Sipoys drängte sich 'von selbst daS Bewußtsein der Schwäche ihrer Herrscher und der eignen Stärke auf, und das in einem Moment, wo durch unglückliche Verwicklungen die Furcht vor einem Bekehrungszwang im beuga-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/392>, abgerufen am 25.08.2024.