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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Gegenwart. Der Name Saladins mag nicht mehr so in dem Gedächtniß des
Volks leben, als die Namen der mythischen Helden Antar und Abu Said.
Dagegen weiß von dem einst vielverwünschten, jetzt hochverehrten Mehemed
Ali hier, wie es scheint, jedermann, daß er ohne den Dazwischentritt der
Franken Stambul eingenommen und Sultan Mahmud vom Stuhl des Be¬
herrschers der Gläubigen gestoßen haben würde, um sich darauf zu setzen. Von
dem jetzt regierenden Vicekönig erwartet der Aegypter wenig Energie in kriti¬
schen Zeiten. Durch den Ausgang des Krieges mit Rußland und das jüngste
ziemlich dictatorische Auftreten der Pforte gegen ihren Vasallen am Nil dürfte
andrerseits der Credit der Regierung des Padischah beim gemeinen Manne
in Aegypten beträchtlich gestiegen sein. Daß aber von den Moskowitern noch
immer ernstliche Gefahr droht, sind sich wol alle Moslemin dunkel bewußt,
welche für mehr als den Umkreis ihres Dorfs Augen und Ohren haben; diese
bange Ahnung ist, wenigstens an den Küsten hin, selbst in den untern Schich¬
ten der Bevölkerung einigermaßen vorhanden, und wo sich Gebildetere anders
aussprechen, ist es unzweifelhaft häufiger Verstellung als Verblendung.

Wir möchtet den Grund der Bevorzugung Kairos aber noch auf einer
andern Stelle suchen. Das Türkenthum liegt in den letzten Zügen. Das
Araberthum mag noch eine Zukunft haben. Die Kalifenstadt am Nil aber
ist der Sitz der höchsten arabischen Bildung und Gelehrsamkeit, sie ist die einzige
große Stadt deS Orients, die ganz aus der arabischen Natur erwachsen ist,
und die einzige zugleich, welche den ihr dadurch gegebenen Typus treu bewahrt
hat. Die Aja Sofia ist von Christen erbaut, die Physiognomie der Riesen¬
stadt, in der sie sich erhebt, hatte zu allen Zeiten seit ihrer Eroberung durch
die Türken stark hervortretende hellenische Züge, das Costüm, die Sitte, selbst
die Denkungsart derer, die in dieser Stadt leben, wird von Jahr zu Jahr
europäischer. Smyrna ferner und Alerandrien sind längst schon mehr griechisch¬
italienische als türkisch-arabische Städte. Das ferne Bagdad ist eine halbe
Ruine. An Kairo dagegen hat der Geist, der das altägyptische Leben Jahr¬
tausende lang vor dem Wechsel bewahrte, bisher fast so wunderbar wie damals
seine erhaltende Macht bewiesen, in seinem Straßenlabyrinth geht man noch
heute durch ein Märchen aus Tausend und Eine Nacht, und wenn morgen
einer der alten Sultane wiederkehrte, die in den Kuppelgräbern der Nekropolis
beim Bab El Nasr ruhen, er würde, wenn er nicht von ungefähr den Weg
nach dem äußersten Westen der Stadt einschlüge, keine Stunde geschlafen zu
haben meinen.

Dieser Eindruck, unter dem ein frisch von Europa Gekommener sich bis¬
weilen fragen kann, ob er nicht träume, steigert sich, wenn der Beschauer sich
erinnert, mit welcher Gewaltsamkeit und in welcher Ausdehnung Mehemed Ali
nach europäischen Vorbildern reformirte, und wenn er sich ins Gedächtniß


Gegenwart. Der Name Saladins mag nicht mehr so in dem Gedächtniß des
Volks leben, als die Namen der mythischen Helden Antar und Abu Said.
Dagegen weiß von dem einst vielverwünschten, jetzt hochverehrten Mehemed
Ali hier, wie es scheint, jedermann, daß er ohne den Dazwischentritt der
Franken Stambul eingenommen und Sultan Mahmud vom Stuhl des Be¬
herrschers der Gläubigen gestoßen haben würde, um sich darauf zu setzen. Von
dem jetzt regierenden Vicekönig erwartet der Aegypter wenig Energie in kriti¬
schen Zeiten. Durch den Ausgang des Krieges mit Rußland und das jüngste
ziemlich dictatorische Auftreten der Pforte gegen ihren Vasallen am Nil dürfte
andrerseits der Credit der Regierung des Padischah beim gemeinen Manne
in Aegypten beträchtlich gestiegen sein. Daß aber von den Moskowitern noch
immer ernstliche Gefahr droht, sind sich wol alle Moslemin dunkel bewußt,
welche für mehr als den Umkreis ihres Dorfs Augen und Ohren haben; diese
bange Ahnung ist, wenigstens an den Küsten hin, selbst in den untern Schich¬
ten der Bevölkerung einigermaßen vorhanden, und wo sich Gebildetere anders
aussprechen, ist es unzweifelhaft häufiger Verstellung als Verblendung.

Wir möchtet den Grund der Bevorzugung Kairos aber noch auf einer
andern Stelle suchen. Das Türkenthum liegt in den letzten Zügen. Das
Araberthum mag noch eine Zukunft haben. Die Kalifenstadt am Nil aber
ist der Sitz der höchsten arabischen Bildung und Gelehrsamkeit, sie ist die einzige
große Stadt deS Orients, die ganz aus der arabischen Natur erwachsen ist,
und die einzige zugleich, welche den ihr dadurch gegebenen Typus treu bewahrt
hat. Die Aja Sofia ist von Christen erbaut, die Physiognomie der Riesen¬
stadt, in der sie sich erhebt, hatte zu allen Zeiten seit ihrer Eroberung durch
die Türken stark hervortretende hellenische Züge, das Costüm, die Sitte, selbst
die Denkungsart derer, die in dieser Stadt leben, wird von Jahr zu Jahr
europäischer. Smyrna ferner und Alerandrien sind längst schon mehr griechisch¬
italienische als türkisch-arabische Städte. Das ferne Bagdad ist eine halbe
Ruine. An Kairo dagegen hat der Geist, der das altägyptische Leben Jahr¬
tausende lang vor dem Wechsel bewahrte, bisher fast so wunderbar wie damals
seine erhaltende Macht bewiesen, in seinem Straßenlabyrinth geht man noch
heute durch ein Märchen aus Tausend und Eine Nacht, und wenn morgen
einer der alten Sultane wiederkehrte, die in den Kuppelgräbern der Nekropolis
beim Bab El Nasr ruhen, er würde, wenn er nicht von ungefähr den Weg
nach dem äußersten Westen der Stadt einschlüge, keine Stunde geschlafen zu
haben meinen.

Dieser Eindruck, unter dem ein frisch von Europa Gekommener sich bis¬
weilen fragen kann, ob er nicht träume, steigert sich, wenn der Beschauer sich
erinnert, mit welcher Gewaltsamkeit und in welcher Ausdehnung Mehemed Ali
nach europäischen Vorbildern reformirte, und wenn er sich ins Gedächtniß


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[0370] Gegenwart. Der Name Saladins mag nicht mehr so in dem Gedächtniß des Volks leben, als die Namen der mythischen Helden Antar und Abu Said. Dagegen weiß von dem einst vielverwünschten, jetzt hochverehrten Mehemed Ali hier, wie es scheint, jedermann, daß er ohne den Dazwischentritt der Franken Stambul eingenommen und Sultan Mahmud vom Stuhl des Be¬ herrschers der Gläubigen gestoßen haben würde, um sich darauf zu setzen. Von dem jetzt regierenden Vicekönig erwartet der Aegypter wenig Energie in kriti¬ schen Zeiten. Durch den Ausgang des Krieges mit Rußland und das jüngste ziemlich dictatorische Auftreten der Pforte gegen ihren Vasallen am Nil dürfte andrerseits der Credit der Regierung des Padischah beim gemeinen Manne in Aegypten beträchtlich gestiegen sein. Daß aber von den Moskowitern noch immer ernstliche Gefahr droht, sind sich wol alle Moslemin dunkel bewußt, welche für mehr als den Umkreis ihres Dorfs Augen und Ohren haben; diese bange Ahnung ist, wenigstens an den Küsten hin, selbst in den untern Schich¬ ten der Bevölkerung einigermaßen vorhanden, und wo sich Gebildetere anders aussprechen, ist es unzweifelhaft häufiger Verstellung als Verblendung. Wir möchtet den Grund der Bevorzugung Kairos aber noch auf einer andern Stelle suchen. Das Türkenthum liegt in den letzten Zügen. Das Araberthum mag noch eine Zukunft haben. Die Kalifenstadt am Nil aber ist der Sitz der höchsten arabischen Bildung und Gelehrsamkeit, sie ist die einzige große Stadt deS Orients, die ganz aus der arabischen Natur erwachsen ist, und die einzige zugleich, welche den ihr dadurch gegebenen Typus treu bewahrt hat. Die Aja Sofia ist von Christen erbaut, die Physiognomie der Riesen¬ stadt, in der sie sich erhebt, hatte zu allen Zeiten seit ihrer Eroberung durch die Türken stark hervortretende hellenische Züge, das Costüm, die Sitte, selbst die Denkungsart derer, die in dieser Stadt leben, wird von Jahr zu Jahr europäischer. Smyrna ferner und Alerandrien sind längst schon mehr griechisch¬ italienische als türkisch-arabische Städte. Das ferne Bagdad ist eine halbe Ruine. An Kairo dagegen hat der Geist, der das altägyptische Leben Jahr¬ tausende lang vor dem Wechsel bewahrte, bisher fast so wunderbar wie damals seine erhaltende Macht bewiesen, in seinem Straßenlabyrinth geht man noch heute durch ein Märchen aus Tausend und Eine Nacht, und wenn morgen einer der alten Sultane wiederkehrte, die in den Kuppelgräbern der Nekropolis beim Bab El Nasr ruhen, er würde, wenn er nicht von ungefähr den Weg nach dem äußersten Westen der Stadt einschlüge, keine Stunde geschlafen zu haben meinen. Dieser Eindruck, unter dem ein frisch von Europa Gekommener sich bis¬ weilen fragen kann, ob er nicht träume, steigert sich, wenn der Beschauer sich erinnert, mit welcher Gewaltsamkeit und in welcher Ausdehnung Mehemed Ali nach europäischen Vorbildern reformirte, und wenn er sich ins Gedächtniß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/370>, abgerufen am 22.07.2024.