Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

soll es in dieser Beziehung allerdings nicht richtig gewesen und fast überall auf den
Thee etwas Geistigeres gesetzt worden sein; jetzt hat sich die Sitte nur in den
Städten und zwar vorzüglich in den kleineren erhalten. Mag die Sitte des
"Schälchcns" vor Tische aus aller schwedischer Zeit stammen oder vom Moskowiter
entlehnt sein, keiner der Herrn verschmäht hier dies Reizmittel des Appetites
und nur die Damen enthalten sich desselben und widerlegen dadurch eine der
vielen Bosheiten, welche Miß Nigby (Verfasserin der l^tires 1'ron tus L-ai-
lle. -1842. "Baltische Briefe" -1846 bei Brockhaus) ihnen angedichtet hat. Im
Speisezimmer erwartet uns eine einfache, aber reichliche Mahlzeit. In den
wenigsten Häusern herrscht Lurus in Beziehung auf Auswahl, Zubereitung
und Menge der Gerichte; ja den Esthländern sagt man nach, daß sie sich auf
dem Lande oft ärmlich behelfen, um dann während der städtischen Saison
desto mehr Aufwand machen zu können. Die Küche ist ein Gemisch von
deutschen und schwedischen Gerichten, aus Rußland hat sich außer einigen
Geheimnissen der Pastetenbäckerei wenig heimisch gemacht. Aus Skandinavien
und Niedersachsen stammt die vorherrschende Liebe zu Milch und Brei. Sauren
Nahm (Schuaut), gekäste Milch, süße Milch ißt man im Sommer und Herbst
theils anstatt der Suppe, theils als Abendbrot, und regelmäßig zweimal in
der Woche erscheint in Begleitung der Milch der dem Süd- und Mittel¬
deutschen abominable Gersten- oder Buchweizengrützbrei (die Britin hat ihn
für Hafermehlpudding gehalten!), der nur zuweilen zwischen Kohlblättern ge¬
backen, wohlschmeckend wird. In Milch kocht man jedes Gemüse, mit Milch
versetzt man jede Sauce -- kurz ihr gibt man in der Kochkunst einen über¬
mäßigen Spielraum, so wie man auch den Zucker an viele Speisen verschwen¬
det, ohne dadurch deren Geschmack zu verbessern. Um einen Reichthum müssen
wir diese Länder beneiden. Der Wald und Morast hegt noch Massen von
Vogelwild, und da der Bauer die Jagd, wo sie frei ist, als Erwerb benutzt,
so wandern sie alle, vom stolzen Auerhahn bis zur Schnepfe und Drossel für
Spottpreise in die Küchen der Deutschen. Des Genusses von Taubenfleisch
enthält man sich, vielleicht hierin die Sitte der Russen nachahmend, welchen
die Taube, als Symbol des heiligen Geistes, heilig ist. Sehr reich ist das
Land an Hechten, Lachsforellen, Aalen und Brachsen; die Seefische der nahen,
Ostsee werden daher außer dem Strömling, der ein Hauptnahrungsmittel der
nationalen ist, und dem kleinen Killoströmling, der bei Neval gefangen und
wie die Sardellen eingemacht, durch ganz Rußland versendet wird, gar nicht
ins Innere zum Verkauf gebracht. Auch den Hasen, von welchem es zwei
Arten, den gewöhnlichen grauen und den kleineren weißen gibt, verkauft der
Bauer am Hofe, weil er ihn aus einer gewissen abergläubischen Scheu nicht
ißt. Den Bärenbraten lassen die Meisten gern stehen, wenn sie das grob¬
faserige Fleisch gekostet und die berühmten Fetttatzen gesehen haben, welche zu


soll es in dieser Beziehung allerdings nicht richtig gewesen und fast überall auf den
Thee etwas Geistigeres gesetzt worden sein; jetzt hat sich die Sitte nur in den
Städten und zwar vorzüglich in den kleineren erhalten. Mag die Sitte des
„Schälchcns" vor Tische aus aller schwedischer Zeit stammen oder vom Moskowiter
entlehnt sein, keiner der Herrn verschmäht hier dies Reizmittel des Appetites
und nur die Damen enthalten sich desselben und widerlegen dadurch eine der
vielen Bosheiten, welche Miß Nigby (Verfasserin der l^tires 1'ron tus L-ai-
lle. -1842. „Baltische Briefe" -1846 bei Brockhaus) ihnen angedichtet hat. Im
Speisezimmer erwartet uns eine einfache, aber reichliche Mahlzeit. In den
wenigsten Häusern herrscht Lurus in Beziehung auf Auswahl, Zubereitung
und Menge der Gerichte; ja den Esthländern sagt man nach, daß sie sich auf
dem Lande oft ärmlich behelfen, um dann während der städtischen Saison
desto mehr Aufwand machen zu können. Die Küche ist ein Gemisch von
deutschen und schwedischen Gerichten, aus Rußland hat sich außer einigen
Geheimnissen der Pastetenbäckerei wenig heimisch gemacht. Aus Skandinavien
und Niedersachsen stammt die vorherrschende Liebe zu Milch und Brei. Sauren
Nahm (Schuaut), gekäste Milch, süße Milch ißt man im Sommer und Herbst
theils anstatt der Suppe, theils als Abendbrot, und regelmäßig zweimal in
der Woche erscheint in Begleitung der Milch der dem Süd- und Mittel¬
deutschen abominable Gersten- oder Buchweizengrützbrei (die Britin hat ihn
für Hafermehlpudding gehalten!), der nur zuweilen zwischen Kohlblättern ge¬
backen, wohlschmeckend wird. In Milch kocht man jedes Gemüse, mit Milch
versetzt man jede Sauce — kurz ihr gibt man in der Kochkunst einen über¬
mäßigen Spielraum, so wie man auch den Zucker an viele Speisen verschwen¬
det, ohne dadurch deren Geschmack zu verbessern. Um einen Reichthum müssen
wir diese Länder beneiden. Der Wald und Morast hegt noch Massen von
Vogelwild, und da der Bauer die Jagd, wo sie frei ist, als Erwerb benutzt,
so wandern sie alle, vom stolzen Auerhahn bis zur Schnepfe und Drossel für
Spottpreise in die Küchen der Deutschen. Des Genusses von Taubenfleisch
enthält man sich, vielleicht hierin die Sitte der Russen nachahmend, welchen
die Taube, als Symbol des heiligen Geistes, heilig ist. Sehr reich ist das
Land an Hechten, Lachsforellen, Aalen und Brachsen; die Seefische der nahen,
Ostsee werden daher außer dem Strömling, der ein Hauptnahrungsmittel der
nationalen ist, und dem kleinen Killoströmling, der bei Neval gefangen und
wie die Sardellen eingemacht, durch ganz Rußland versendet wird, gar nicht
ins Innere zum Verkauf gebracht. Auch den Hasen, von welchem es zwei
Arten, den gewöhnlichen grauen und den kleineren weißen gibt, verkauft der
Bauer am Hofe, weil er ihn aus einer gewissen abergläubischen Scheu nicht
ißt. Den Bärenbraten lassen die Meisten gern stehen, wenn sie das grob¬
faserige Fleisch gekostet und die berühmten Fetttatzen gesehen haben, welche zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104521"/>
          <p xml:id="ID_845" prev="#ID_844" next="#ID_846"> soll es in dieser Beziehung allerdings nicht richtig gewesen und fast überall auf den<lb/>
Thee etwas Geistigeres gesetzt worden sein; jetzt hat sich die Sitte nur in den<lb/>
Städten und zwar vorzüglich in den kleineren erhalten. Mag die Sitte des<lb/>
&#x201E;Schälchcns" vor Tische aus aller schwedischer Zeit stammen oder vom Moskowiter<lb/>
entlehnt sein, keiner der Herrn verschmäht hier dies Reizmittel des Appetites<lb/>
und nur die Damen enthalten sich desselben und widerlegen dadurch eine der<lb/>
vielen Bosheiten, welche Miß Nigby (Verfasserin der l^tires 1'ron tus L-ai-<lb/>
lle. -1842. &#x201E;Baltische Briefe" -1846 bei Brockhaus) ihnen angedichtet hat. Im<lb/>
Speisezimmer erwartet uns eine einfache, aber reichliche Mahlzeit. In den<lb/>
wenigsten Häusern herrscht Lurus in Beziehung auf Auswahl, Zubereitung<lb/>
und Menge der Gerichte; ja den Esthländern sagt man nach, daß sie sich auf<lb/>
dem Lande oft ärmlich behelfen, um dann während der städtischen Saison<lb/>
desto mehr Aufwand machen zu können. Die Küche ist ein Gemisch von<lb/>
deutschen und schwedischen Gerichten, aus Rußland hat sich außer einigen<lb/>
Geheimnissen der Pastetenbäckerei wenig heimisch gemacht. Aus Skandinavien<lb/>
und Niedersachsen stammt die vorherrschende Liebe zu Milch und Brei. Sauren<lb/>
Nahm (Schuaut), gekäste Milch, süße Milch ißt man im Sommer und Herbst<lb/>
theils anstatt der Suppe, theils als Abendbrot, und regelmäßig zweimal in<lb/>
der Woche erscheint in Begleitung der Milch der dem Süd- und Mittel¬<lb/>
deutschen abominable Gersten- oder Buchweizengrützbrei (die Britin hat ihn<lb/>
für Hafermehlpudding gehalten!), der nur zuweilen zwischen Kohlblättern ge¬<lb/>
backen, wohlschmeckend wird. In Milch kocht man jedes Gemüse, mit Milch<lb/>
versetzt man jede Sauce &#x2014; kurz ihr gibt man in der Kochkunst einen über¬<lb/>
mäßigen Spielraum, so wie man auch den Zucker an viele Speisen verschwen¬<lb/>
det, ohne dadurch deren Geschmack zu verbessern. Um einen Reichthum müssen<lb/>
wir diese Länder beneiden. Der Wald und Morast hegt noch Massen von<lb/>
Vogelwild, und da der Bauer die Jagd, wo sie frei ist, als Erwerb benutzt,<lb/>
so wandern sie alle, vom stolzen Auerhahn bis zur Schnepfe und Drossel für<lb/>
Spottpreise in die Küchen der Deutschen. Des Genusses von Taubenfleisch<lb/>
enthält man sich, vielleicht hierin die Sitte der Russen nachahmend, welchen<lb/>
die Taube, als Symbol des heiligen Geistes, heilig ist. Sehr reich ist das<lb/>
Land an Hechten, Lachsforellen, Aalen und Brachsen; die Seefische der nahen,<lb/>
Ostsee werden daher außer dem Strömling, der ein Hauptnahrungsmittel der<lb/>
nationalen ist, und dem kleinen Killoströmling, der bei Neval gefangen und<lb/>
wie die Sardellen eingemacht, durch ganz Rußland versendet wird, gar nicht<lb/>
ins Innere zum Verkauf gebracht. Auch den Hasen, von welchem es zwei<lb/>
Arten, den gewöhnlichen grauen und den kleineren weißen gibt, verkauft der<lb/>
Bauer am Hofe, weil er ihn aus einer gewissen abergläubischen Scheu nicht<lb/>
ißt. Den Bärenbraten lassen die Meisten gern stehen, wenn sie das grob¬<lb/>
faserige Fleisch gekostet und die berühmten Fetttatzen gesehen haben, welche zu</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0320] soll es in dieser Beziehung allerdings nicht richtig gewesen und fast überall auf den Thee etwas Geistigeres gesetzt worden sein; jetzt hat sich die Sitte nur in den Städten und zwar vorzüglich in den kleineren erhalten. Mag die Sitte des „Schälchcns" vor Tische aus aller schwedischer Zeit stammen oder vom Moskowiter entlehnt sein, keiner der Herrn verschmäht hier dies Reizmittel des Appetites und nur die Damen enthalten sich desselben und widerlegen dadurch eine der vielen Bosheiten, welche Miß Nigby (Verfasserin der l^tires 1'ron tus L-ai- lle. -1842. „Baltische Briefe" -1846 bei Brockhaus) ihnen angedichtet hat. Im Speisezimmer erwartet uns eine einfache, aber reichliche Mahlzeit. In den wenigsten Häusern herrscht Lurus in Beziehung auf Auswahl, Zubereitung und Menge der Gerichte; ja den Esthländern sagt man nach, daß sie sich auf dem Lande oft ärmlich behelfen, um dann während der städtischen Saison desto mehr Aufwand machen zu können. Die Küche ist ein Gemisch von deutschen und schwedischen Gerichten, aus Rußland hat sich außer einigen Geheimnissen der Pastetenbäckerei wenig heimisch gemacht. Aus Skandinavien und Niedersachsen stammt die vorherrschende Liebe zu Milch und Brei. Sauren Nahm (Schuaut), gekäste Milch, süße Milch ißt man im Sommer und Herbst theils anstatt der Suppe, theils als Abendbrot, und regelmäßig zweimal in der Woche erscheint in Begleitung der Milch der dem Süd- und Mittel¬ deutschen abominable Gersten- oder Buchweizengrützbrei (die Britin hat ihn für Hafermehlpudding gehalten!), der nur zuweilen zwischen Kohlblättern ge¬ backen, wohlschmeckend wird. In Milch kocht man jedes Gemüse, mit Milch versetzt man jede Sauce — kurz ihr gibt man in der Kochkunst einen über¬ mäßigen Spielraum, so wie man auch den Zucker an viele Speisen verschwen¬ det, ohne dadurch deren Geschmack zu verbessern. Um einen Reichthum müssen wir diese Länder beneiden. Der Wald und Morast hegt noch Massen von Vogelwild, und da der Bauer die Jagd, wo sie frei ist, als Erwerb benutzt, so wandern sie alle, vom stolzen Auerhahn bis zur Schnepfe und Drossel für Spottpreise in die Küchen der Deutschen. Des Genusses von Taubenfleisch enthält man sich, vielleicht hierin die Sitte der Russen nachahmend, welchen die Taube, als Symbol des heiligen Geistes, heilig ist. Sehr reich ist das Land an Hechten, Lachsforellen, Aalen und Brachsen; die Seefische der nahen, Ostsee werden daher außer dem Strömling, der ein Hauptnahrungsmittel der nationalen ist, und dem kleinen Killoströmling, der bei Neval gefangen und wie die Sardellen eingemacht, durch ganz Rußland versendet wird, gar nicht ins Innere zum Verkauf gebracht. Auch den Hasen, von welchem es zwei Arten, den gewöhnlichen grauen und den kleineren weißen gibt, verkauft der Bauer am Hofe, weil er ihn aus einer gewissen abergläubischen Scheu nicht ißt. Den Bärenbraten lassen die Meisten gern stehen, wenn sie das grob¬ faserige Fleisch gekostet und die berühmten Fetttatzen gesehen haben, welche zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/320
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/320>, abgerufen am 12.12.2024.