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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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tungen hin: weder im antiaristokratischen noch im antipietistischen Gerüche dür¬
fen die Schriftsteller stehen, welche die Schwelle ihres Boudoirs überschreiten,
und wie früher die Gräfin Jda Hahn, so fehlt jetzt Oscar von Redwitz in
keiner Bücheretagsre; andere bedeutendere Größen vermögen sich wenigstens
keinen bleibenden Platz neben den ErbauungSschristen zu erwerben, welche hier
den ersten Rang behaupten. Mit dieser streng gläubigen Richtung hängt eS
zusammen, daß die Frauen durchweg noch bessere Patriotinnen sind als die
Männer, und daß -eine freiere politische Aeußerung selten von ihnen unan¬
gefochten bleibt. Als während des letzten Krieges die Engländer und Franzo¬
sen sich dem Kriegstheater an der Donau näherten und die Zeitungen von
dem Gesundheitszustande der Truppen Nachtheiliges berichteten, meinte eine
geistreiche Livländerin in einer Gesellschaft, eS sei dies die Folge einer weisen
Entschließung Nikolais, der seine Truppen nicht weiter habe vorrücken lassen,
Um die Alliirten in jene ungesundes Gegenden zu locken. Die dagegen aus¬
gesprochenen bescheidenen Zweifel eines inländischen Gelehrten und daS ironische
Lächeln eines Ausländers setzten die Dame so in Zorn, daß sie beide, zum
Glück ohne gefährliche Folgen, denuncirte. Während seines Aufenthaltes vor
Reval hielt einst Napier zwischen der Insel Nargen und der Stadt eine gro߬
artige Schießübung, indem er seine Dampfschiffe im Quarre sich drehen und
Breitseite auf Breitseite sich einem bestimmten Punkte gegenüber entladen ließ.
Die Dechargen folgten immer schneller, der bis an die livländische Gouverne¬
mentsgrenze gehörte Kanonendonner sprengte viele Fensterscheiben Revals, und
Man befürchtete, daß die englische Flotte sich mehr und mehr nähern und end¬
lich die Stadt selbst zum Zielpunkte wählen dürfte. In der Angst that sich
e>n Häuflein Frommer vom Lande auf dem Domberge zusammen, betete um
Abwendung der vermeintlichen Gefahr, und -- siehe da, "Karlchen", dem es gar
nicht in den Sinn gekommen war Ernst zu machen und der überhaupt oft
genug wie zu seinem Spaße die Armee deS Herrn von Berg alarmirte, be¬
endete endlich den fulminanten Ohrenschmauß. So weit wäre alles gut und
nicht einmal ein Grund zum Lächeln vorhanden, wenn nur nicht später diese
Geschichte als Beweis von der Wirksamkeit des Gebetes von den Frauen der
Aristokratie öffentlich citirt worden wäre! --

So verrinnt die Theestunde, unstreitig die angenehmste des Tages im
nordischen Familienleben. Der Hausherr fordert uns auf, mit ihm einen
Gang ins Freie zu machen und wir betreten zuerst den Hof, auf dessen Sand¬
fläche die Kinder ihre Spiele treiben. Die meisten deutschen Jugendspiele finden
wir hier wieder; einige haben sich aber auch aus Rußland hier eingebürgert
und man erkennt sie augenblicklich an dem dazu nothwendigen Gebrauche des
Knüttels. Das Hauptgebäude des Hofes ist die sogenannte Branntweinküche,
>n welcher gewöhnlich auch der Verwalter seine Wohnung hat. Es ist ein


tungen hin: weder im antiaristokratischen noch im antipietistischen Gerüche dür¬
fen die Schriftsteller stehen, welche die Schwelle ihres Boudoirs überschreiten,
und wie früher die Gräfin Jda Hahn, so fehlt jetzt Oscar von Redwitz in
keiner Bücheretagsre; andere bedeutendere Größen vermögen sich wenigstens
keinen bleibenden Platz neben den ErbauungSschristen zu erwerben, welche hier
den ersten Rang behaupten. Mit dieser streng gläubigen Richtung hängt eS
zusammen, daß die Frauen durchweg noch bessere Patriotinnen sind als die
Männer, und daß -eine freiere politische Aeußerung selten von ihnen unan¬
gefochten bleibt. Als während des letzten Krieges die Engländer und Franzo¬
sen sich dem Kriegstheater an der Donau näherten und die Zeitungen von
dem Gesundheitszustande der Truppen Nachtheiliges berichteten, meinte eine
geistreiche Livländerin in einer Gesellschaft, eS sei dies die Folge einer weisen
Entschließung Nikolais, der seine Truppen nicht weiter habe vorrücken lassen,
Um die Alliirten in jene ungesundes Gegenden zu locken. Die dagegen aus¬
gesprochenen bescheidenen Zweifel eines inländischen Gelehrten und daS ironische
Lächeln eines Ausländers setzten die Dame so in Zorn, daß sie beide, zum
Glück ohne gefährliche Folgen, denuncirte. Während seines Aufenthaltes vor
Reval hielt einst Napier zwischen der Insel Nargen und der Stadt eine gro߬
artige Schießübung, indem er seine Dampfschiffe im Quarre sich drehen und
Breitseite auf Breitseite sich einem bestimmten Punkte gegenüber entladen ließ.
Die Dechargen folgten immer schneller, der bis an die livländische Gouverne¬
mentsgrenze gehörte Kanonendonner sprengte viele Fensterscheiben Revals, und
Man befürchtete, daß die englische Flotte sich mehr und mehr nähern und end¬
lich die Stadt selbst zum Zielpunkte wählen dürfte. In der Angst that sich
e>n Häuflein Frommer vom Lande auf dem Domberge zusammen, betete um
Abwendung der vermeintlichen Gefahr, und — siehe da, „Karlchen", dem es gar
nicht in den Sinn gekommen war Ernst zu machen und der überhaupt oft
genug wie zu seinem Spaße die Armee deS Herrn von Berg alarmirte, be¬
endete endlich den fulminanten Ohrenschmauß. So weit wäre alles gut und
nicht einmal ein Grund zum Lächeln vorhanden, wenn nur nicht später diese
Geschichte als Beweis von der Wirksamkeit des Gebetes von den Frauen der
Aristokratie öffentlich citirt worden wäre! —

So verrinnt die Theestunde, unstreitig die angenehmste des Tages im
nordischen Familienleben. Der Hausherr fordert uns auf, mit ihm einen
Gang ins Freie zu machen und wir betreten zuerst den Hof, auf dessen Sand¬
fläche die Kinder ihre Spiele treiben. Die meisten deutschen Jugendspiele finden
wir hier wieder; einige haben sich aber auch aus Rußland hier eingebürgert
und man erkennt sie augenblicklich an dem dazu nothwendigen Gebrauche des
Knüttels. Das Hauptgebäude des Hofes ist die sogenannte Branntweinküche,
>n welcher gewöhnlich auch der Verwalter seine Wohnung hat. Es ist ein


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[0317] tungen hin: weder im antiaristokratischen noch im antipietistischen Gerüche dür¬ fen die Schriftsteller stehen, welche die Schwelle ihres Boudoirs überschreiten, und wie früher die Gräfin Jda Hahn, so fehlt jetzt Oscar von Redwitz in keiner Bücheretagsre; andere bedeutendere Größen vermögen sich wenigstens keinen bleibenden Platz neben den ErbauungSschristen zu erwerben, welche hier den ersten Rang behaupten. Mit dieser streng gläubigen Richtung hängt eS zusammen, daß die Frauen durchweg noch bessere Patriotinnen sind als die Männer, und daß -eine freiere politische Aeußerung selten von ihnen unan¬ gefochten bleibt. Als während des letzten Krieges die Engländer und Franzo¬ sen sich dem Kriegstheater an der Donau näherten und die Zeitungen von dem Gesundheitszustande der Truppen Nachtheiliges berichteten, meinte eine geistreiche Livländerin in einer Gesellschaft, eS sei dies die Folge einer weisen Entschließung Nikolais, der seine Truppen nicht weiter habe vorrücken lassen, Um die Alliirten in jene ungesundes Gegenden zu locken. Die dagegen aus¬ gesprochenen bescheidenen Zweifel eines inländischen Gelehrten und daS ironische Lächeln eines Ausländers setzten die Dame so in Zorn, daß sie beide, zum Glück ohne gefährliche Folgen, denuncirte. Während seines Aufenthaltes vor Reval hielt einst Napier zwischen der Insel Nargen und der Stadt eine gro߬ artige Schießübung, indem er seine Dampfschiffe im Quarre sich drehen und Breitseite auf Breitseite sich einem bestimmten Punkte gegenüber entladen ließ. Die Dechargen folgten immer schneller, der bis an die livländische Gouverne¬ mentsgrenze gehörte Kanonendonner sprengte viele Fensterscheiben Revals, und Man befürchtete, daß die englische Flotte sich mehr und mehr nähern und end¬ lich die Stadt selbst zum Zielpunkte wählen dürfte. In der Angst that sich e>n Häuflein Frommer vom Lande auf dem Domberge zusammen, betete um Abwendung der vermeintlichen Gefahr, und — siehe da, „Karlchen", dem es gar nicht in den Sinn gekommen war Ernst zu machen und der überhaupt oft genug wie zu seinem Spaße die Armee deS Herrn von Berg alarmirte, be¬ endete endlich den fulminanten Ohrenschmauß. So weit wäre alles gut und nicht einmal ein Grund zum Lächeln vorhanden, wenn nur nicht später diese Geschichte als Beweis von der Wirksamkeit des Gebetes von den Frauen der Aristokratie öffentlich citirt worden wäre! — So verrinnt die Theestunde, unstreitig die angenehmste des Tages im nordischen Familienleben. Der Hausherr fordert uns auf, mit ihm einen Gang ins Freie zu machen und wir betreten zuerst den Hof, auf dessen Sand¬ fläche die Kinder ihre Spiele treiben. Die meisten deutschen Jugendspiele finden wir hier wieder; einige haben sich aber auch aus Rußland hier eingebürgert und man erkennt sie augenblicklich an dem dazu nothwendigen Gebrauche des Knüttels. Das Hauptgebäude des Hofes ist die sogenannte Branntweinküche, >n welcher gewöhnlich auch der Verwalter seine Wohnung hat. Es ist ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/317>, abgerufen am 22.07.2024.