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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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in allen Verhältnissen des praktischen Lebens anzuwenden, das
sind zwei von den Grundtrieben der Menschennatur, mittelst deren sie sich
über die Thierheit erhebt, die Wurzeln aller Intelligenz und Sittlichkeit, auf
welchen die Civilisation beruht. Der industrielle Fortschritt ist daher
mit dem Culturfortschritt eins, beide bedingen einander, fallen in ihrem
Ausgangspunkte, wie in ihrem Endziel zusammen. Unaufhaltsam und noth¬
wendig, wie das Wachsthum in der organischen Natur, kann man sie im
Einzelnen periodisch wol hemmen, aber niemals im Ganzen und auf die Dauer
zum Stillstand bringen. Den Menschen verbieten, das, was sie aus den
neuern Entdeckungen der Wissenschaft erlernt haben, zu praktischen Zwecken an¬
zuwenden, hieße die Wissenschaft zu einem leeren Spiel, zu einer Anhäufung
todten, völlig unnützen Apparats erniedrigen, und ihren höchsten, letzten Zweck
alles Sein und Thun der Menschen zu läutern und zu stetigen, verkennen.
Wie der einzelne Mensch von der Kindheit bis zur Reife, hat auch die Menschheit
im Großen und Ganzen verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen und jeder
empfängt in dem VildungSstande derjenigen Periode, in welche sein Leben
fällt, das Erbe der vorangegangenen Geschlechter., Dieser Stand der all¬
gemeinen Zeilbildung, welcher für alles Thun und Denken der Zeitgenossen,
also auch für ihre industrielle Thätigkeit maßgebend ist, stellt so zu sagen
die geistige Lebenslust vor, in welcher alle athmen und sich bewegen, und
der sich niemand zu entziehen vermag, ohne geistig abzusterben, aus dem
Leben seiner Zeit auszuscheiden. Wohin es führt, gegen diese im Wesen
des Menschen begründete Bedingung, gegen den Verlauf des geschichtlichen
EiUwicklungsprocess.es anzukämpfen, dafür liegen traurige Erfahrungen vor.
Ueberall wo man an früheren Industriezweigen und Betriebsweisen, die von'
neuern Erfindungen überflügelt waren, hartnäckig festhielt, statt des gehofften
Aufschwungs sichtlicher Verfall. In manchen Gegenden, in ganzen sonst
blühenden Provinzen -- man denke an die Spitzcnklöppler des sächsischen
Erzgebirges, die Handleinenindustrie in Oberschlesien und Flandern u. a. in.
-- Hunger und Elend chronisch, so daß den Leuten am Ende selbst die mo¬
ralische Kraft ausgeht, einen andern Nahrungszweig zu ergreifen: alles die
Frucht jenes unseligen Aukämpsens gegen das Unvermeidliche, gegen die
Uebermacht der neuen Industrie, in welchem die Betheiligten ihre letzten
Mittel fruchtlos zersplittern, die sie so nöthig hätten, um in die rechte Bahn
einzulenken.

Wie hiernach dieser erste Irrthum auf falschen Folgerungen aus an
sich richtigen Thatsachen, auf unklaren Vorstellungen über den Grund deS
Uebels beruht, und von den traurigsten Folgen für die Betheiligten begleitet
ist, so enthält der zweite ein vollständiges Verkennen der Grundbedingungen
aller menschlichen Arbeit, deö Verhältnisses zwischen Arbeit und Lohn,


in allen Verhältnissen des praktischen Lebens anzuwenden, das
sind zwei von den Grundtrieben der Menschennatur, mittelst deren sie sich
über die Thierheit erhebt, die Wurzeln aller Intelligenz und Sittlichkeit, auf
welchen die Civilisation beruht. Der industrielle Fortschritt ist daher
mit dem Culturfortschritt eins, beide bedingen einander, fallen in ihrem
Ausgangspunkte, wie in ihrem Endziel zusammen. Unaufhaltsam und noth¬
wendig, wie das Wachsthum in der organischen Natur, kann man sie im
Einzelnen periodisch wol hemmen, aber niemals im Ganzen und auf die Dauer
zum Stillstand bringen. Den Menschen verbieten, das, was sie aus den
neuern Entdeckungen der Wissenschaft erlernt haben, zu praktischen Zwecken an¬
zuwenden, hieße die Wissenschaft zu einem leeren Spiel, zu einer Anhäufung
todten, völlig unnützen Apparats erniedrigen, und ihren höchsten, letzten Zweck
alles Sein und Thun der Menschen zu läutern und zu stetigen, verkennen.
Wie der einzelne Mensch von der Kindheit bis zur Reife, hat auch die Menschheit
im Großen und Ganzen verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen und jeder
empfängt in dem VildungSstande derjenigen Periode, in welche sein Leben
fällt, das Erbe der vorangegangenen Geschlechter., Dieser Stand der all¬
gemeinen Zeilbildung, welcher für alles Thun und Denken der Zeitgenossen,
also auch für ihre industrielle Thätigkeit maßgebend ist, stellt so zu sagen
die geistige Lebenslust vor, in welcher alle athmen und sich bewegen, und
der sich niemand zu entziehen vermag, ohne geistig abzusterben, aus dem
Leben seiner Zeit auszuscheiden. Wohin es führt, gegen diese im Wesen
des Menschen begründete Bedingung, gegen den Verlauf des geschichtlichen
EiUwicklungsprocess.es anzukämpfen, dafür liegen traurige Erfahrungen vor.
Ueberall wo man an früheren Industriezweigen und Betriebsweisen, die von'
neuern Erfindungen überflügelt waren, hartnäckig festhielt, statt des gehofften
Aufschwungs sichtlicher Verfall. In manchen Gegenden, in ganzen sonst
blühenden Provinzen — man denke an die Spitzcnklöppler des sächsischen
Erzgebirges, die Handleinenindustrie in Oberschlesien und Flandern u. a. in.
— Hunger und Elend chronisch, so daß den Leuten am Ende selbst die mo¬
ralische Kraft ausgeht, einen andern Nahrungszweig zu ergreifen: alles die
Frucht jenes unseligen Aukämpsens gegen das Unvermeidliche, gegen die
Uebermacht der neuen Industrie, in welchem die Betheiligten ihre letzten
Mittel fruchtlos zersplittern, die sie so nöthig hätten, um in die rechte Bahn
einzulenken.

Wie hiernach dieser erste Irrthum auf falschen Folgerungen aus an
sich richtigen Thatsachen, auf unklaren Vorstellungen über den Grund deS
Uebels beruht, und von den traurigsten Folgen für die Betheiligten begleitet
ist, so enthält der zweite ein vollständiges Verkennen der Grundbedingungen
aller menschlichen Arbeit, deö Verhältnisses zwischen Arbeit und Lohn,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/268>, abgerufen am 01.07.2024.