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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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gehabt, die Vorurtheile und den Aberglauben auszurotten, und für die cracker
Wissenschaften eine Methode zu finden, so war die Aufgabe der neuen Phi¬
losophie, dem sittlichen Leben eine Richtschnur zu geben, und das 'Gefühl wieder
an höhere Ideen zu gewöhnen. Jene bemühte sich, die Ideen auf den ein¬
fachsten abstracten Ausdruck zurückzuführen, und das Lebendige zu zersetzen;
diese, die Ideen in ihrer ganzen Fülle zur Anschauung zu bringen; die eine
ging in ihrem Stil auf Einfachheit und Durchsichtigkeit aus, die andere auf
einen mächtigen concentrirten Ausdruck, 'der dem Verstand imponirte und dem
Gefühl eine reiche Nahrung verhieß. Gleiche Ursachen erzeugen gleiche Wir¬
kungen. Zwar sind die französischen Eklektiker bei den deutschen Idealisten in
die Schule gegangen, und haben nicht blos die hauptsächlichen Ideen, sondern
auch eine große Zahl scholastischer hochklingender Ausdrücke von ihnen ent¬
lehnt, aber sie wären auch von selber darauf gekommen. Der deutschen Spe¬
kulation ging Werther, der französischen Rene voraus und es folgten ihr
Olympio, Lelia, Rolla u. f. w., individuelle Darstellungen desselben Gefühls,
welche sie durch die Abstraction zu befriedigen suchte. Wie in Deutschland
vermählte sich die Dichtung mit der Philosophie, das Bild mit der Abstrac¬
tion, die Träumerei mit der Formel. Die Dichter schrieben Meditationen und
moralische und theologische Abhandlungen in Versen; sie untersuchten das Wesen
des Menschen; sie bewiesen oder widerlegten in vortrefflichen Strophen das
Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Jede Richtung der Philo¬
sophie fand ihre Alexandriner oder ihre Oden. Die Romane sahen aus wie
Handbücher der Wissenschaft, sie behandelten die Jurisprudenz, die Medicin,
selbst die Chemie; sie gingen auf eine sociale Verbesserung aus oder charakte-
ristrten ein historisches Zeitalter; im Gegensatz sahen die philosophischen Lehr¬
bücher mitunter wie Romane, Gebete oder Dithyramben aus; sie sprachen in
Bildern, sie wandten sich an das Gefühl, sie verschmähten auch die Träumerei
nicht, wo eS ihrem Zwecke dienen konnte. Es war mitunter ein verworre¬
nes Durcheinander, aber grade deshalb ein getreuer Abdruck der Zeit, auf
die eS einwirkte.

Die Reaction hatte ihre Philosophen, der Radicalismus stützte sich auf
die Encyklopädisten, nur dem Juste milieu fehlt noch eine Theorie, und diese
gab ihm der Eklekticismus. Die neue Philosophie war der Ausdruck einer
politischen Partei, und darum ist es nöthig, neben ihren Lehren auch den
Charakter und die politische Stellung ihrer Führer ins Auge zu fassen. Wir
halten uns bei dieser Skizze an die vier Männer, welche das vorliegende
Buch charakterisirt: Biran, Royer-Collard, Cousin und Jouffroy, betrachten
aber das, was wir geben, als eine Ergänzung jener Charakteristik.

Maine de Biran, geb. 1766, zu Bergerac, der Sohn eines Arztes,,
wurde zuerst in Pvrigueur bei den Doktrinärs erzogen und legte sich Haupt-


gehabt, die Vorurtheile und den Aberglauben auszurotten, und für die cracker
Wissenschaften eine Methode zu finden, so war die Aufgabe der neuen Phi¬
losophie, dem sittlichen Leben eine Richtschnur zu geben, und das 'Gefühl wieder
an höhere Ideen zu gewöhnen. Jene bemühte sich, die Ideen auf den ein¬
fachsten abstracten Ausdruck zurückzuführen, und das Lebendige zu zersetzen;
diese, die Ideen in ihrer ganzen Fülle zur Anschauung zu bringen; die eine
ging in ihrem Stil auf Einfachheit und Durchsichtigkeit aus, die andere auf
einen mächtigen concentrirten Ausdruck, 'der dem Verstand imponirte und dem
Gefühl eine reiche Nahrung verhieß. Gleiche Ursachen erzeugen gleiche Wir¬
kungen. Zwar sind die französischen Eklektiker bei den deutschen Idealisten in
die Schule gegangen, und haben nicht blos die hauptsächlichen Ideen, sondern
auch eine große Zahl scholastischer hochklingender Ausdrücke von ihnen ent¬
lehnt, aber sie wären auch von selber darauf gekommen. Der deutschen Spe¬
kulation ging Werther, der französischen Rene voraus und es folgten ihr
Olympio, Lelia, Rolla u. f. w., individuelle Darstellungen desselben Gefühls,
welche sie durch die Abstraction zu befriedigen suchte. Wie in Deutschland
vermählte sich die Dichtung mit der Philosophie, das Bild mit der Abstrac¬
tion, die Träumerei mit der Formel. Die Dichter schrieben Meditationen und
moralische und theologische Abhandlungen in Versen; sie untersuchten das Wesen
des Menschen; sie bewiesen oder widerlegten in vortrefflichen Strophen das
Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Jede Richtung der Philo¬
sophie fand ihre Alexandriner oder ihre Oden. Die Romane sahen aus wie
Handbücher der Wissenschaft, sie behandelten die Jurisprudenz, die Medicin,
selbst die Chemie; sie gingen auf eine sociale Verbesserung aus oder charakte-
ristrten ein historisches Zeitalter; im Gegensatz sahen die philosophischen Lehr¬
bücher mitunter wie Romane, Gebete oder Dithyramben aus; sie sprachen in
Bildern, sie wandten sich an das Gefühl, sie verschmähten auch die Träumerei
nicht, wo eS ihrem Zwecke dienen konnte. Es war mitunter ein verworre¬
nes Durcheinander, aber grade deshalb ein getreuer Abdruck der Zeit, auf
die eS einwirkte.

Die Reaction hatte ihre Philosophen, der Radicalismus stützte sich auf
die Encyklopädisten, nur dem Juste milieu fehlt noch eine Theorie, und diese
gab ihm der Eklekticismus. Die neue Philosophie war der Ausdruck einer
politischen Partei, und darum ist es nöthig, neben ihren Lehren auch den
Charakter und die politische Stellung ihrer Führer ins Auge zu fassen. Wir
halten uns bei dieser Skizze an die vier Männer, welche das vorliegende
Buch charakterisirt: Biran, Royer-Collard, Cousin und Jouffroy, betrachten
aber das, was wir geben, als eine Ergänzung jener Charakteristik.

Maine de Biran, geb. 1766, zu Bergerac, der Sohn eines Arztes,,
wurde zuerst in Pvrigueur bei den Doktrinärs erzogen und legte sich Haupt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/254>, abgerufen am 25.08.2024.