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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Die französische Philosophie des 19. Jahrhunderts.

pliilosoplics kran^ius du XIX. sidelo, par II. 'I'aine, iMLlLli öltive cle-
I'üeole normale, ilovleur lo^res. 1'uris, IlselleUe el. t^o. --

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Maine de Biran.

DaS Buch, an welches wir heute unsere Betrachtungen knüpfen, verdient
zunächst durch seinen innern Werth unsere Aufmerksamkeit. Man mag den leicht¬
fertigen Ton mißbilligen, der unter den Anhängern der bisherigen Philosophie
in Frankreich lebhaften Unwillen hervorgerufen zu haben scheint; man wird
nicht leugnen, daß der Verfasser sehr wohl weiß, um was es sich handelt, daß
er die Fragen, deren Aufklärung er unternimmt, gründlich studirt hat, und
daß er Scharfsinn und Witz genug besitzt, seine eignen Gedanken auch seinem
Leser deutlich und eindringlich zu machen. So weit wird das Urtheil allge¬
mein übereinstimmen. Wir gehen aber weiter und behaupten, daß er seine An¬
sicht, der Eklekticismus sei keine Wissenschaft im strengern Sinn des Worts,
mit vollkommner Evidenz begründet hat. Seine Einseitigkeit liegt nur darin, daß
er den Begriff der Wissenschaft auf alle Gebiete der Philosophie anwendet. Es ist
das freilich ein so weitverbreitetes Norurtheil, daß von denen, welche TaineS Resul¬
tate am heftigsten anfechten, die meisten dieser Voraussetzung beitreten werden.
Daß sie aber unhaltbar ist, beweist der erste Blick auf eine Geschichte der Philo¬
sophie. Wir Deutschen haben in der Philosophie eine viel reichere Entwicklung durch¬
gemacht, als die Franzosen, und sind mit Recht stolz darauf; aber auch wir sind
jetzt auf dem Punkt angelangt, unsern bisherigen Gang einmal voraussetzungslos
zu prüfen und ein Inventarium des bleibenden Gewinns aufzustellen,"den die
Wissenschaft auf demselben davongetragen hat. Kenner und Nichtkenner haben
das stille Gefühl, daß dies Inventarium bescheidener ausfallen wird, als unser
Selbstgefühl verhieß. Das Kennzeichen der Wissenschaft besteht darin, daß sie
ihrem Jünger Thatsachen entdeckt, welche die andern nicht wissen. Daß zu
solchen Thatsachen der Satz von der Identität deS Seins und des Nichtseins,
oder die Definition der Geschschte, sie sei ein Fortschritt im Bewußtsein der
Freiheit, nicht gehört, darüber wird man kaum mehr zweifelhaft sein, und die
Zahl der philosophischen Sätze, denen das Kriterium der wissenschaftlichen


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Die französische Philosophie des 19. Jahrhunderts.

pliilosoplics kran^ius du XIX. sidelo, par II. 'I'aine, iMLlLli öltive cle-
I'üeole normale, ilovleur lo^res. 1'uris, IlselleUe el. t^o. —

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Maine de Biran.

DaS Buch, an welches wir heute unsere Betrachtungen knüpfen, verdient
zunächst durch seinen innern Werth unsere Aufmerksamkeit. Man mag den leicht¬
fertigen Ton mißbilligen, der unter den Anhängern der bisherigen Philosophie
in Frankreich lebhaften Unwillen hervorgerufen zu haben scheint; man wird
nicht leugnen, daß der Verfasser sehr wohl weiß, um was es sich handelt, daß
er die Fragen, deren Aufklärung er unternimmt, gründlich studirt hat, und
daß er Scharfsinn und Witz genug besitzt, seine eignen Gedanken auch seinem
Leser deutlich und eindringlich zu machen. So weit wird das Urtheil allge¬
mein übereinstimmen. Wir gehen aber weiter und behaupten, daß er seine An¬
sicht, der Eklekticismus sei keine Wissenschaft im strengern Sinn des Worts,
mit vollkommner Evidenz begründet hat. Seine Einseitigkeit liegt nur darin, daß
er den Begriff der Wissenschaft auf alle Gebiete der Philosophie anwendet. Es ist
das freilich ein so weitverbreitetes Norurtheil, daß von denen, welche TaineS Resul¬
tate am heftigsten anfechten, die meisten dieser Voraussetzung beitreten werden.
Daß sie aber unhaltbar ist, beweist der erste Blick auf eine Geschichte der Philo¬
sophie. Wir Deutschen haben in der Philosophie eine viel reichere Entwicklung durch¬
gemacht, als die Franzosen, und sind mit Recht stolz darauf; aber auch wir sind
jetzt auf dem Punkt angelangt, unsern bisherigen Gang einmal voraussetzungslos
zu prüfen und ein Inventarium des bleibenden Gewinns aufzustellen,»den die
Wissenschaft auf demselben davongetragen hat. Kenner und Nichtkenner haben
das stille Gefühl, daß dies Inventarium bescheidener ausfallen wird, als unser
Selbstgefühl verhieß. Das Kennzeichen der Wissenschaft besteht darin, daß sie
ihrem Jünger Thatsachen entdeckt, welche die andern nicht wissen. Daß zu
solchen Thatsachen der Satz von der Identität deS Seins und des Nichtseins,
oder die Definition der Geschschte, sie sei ein Fortschritt im Bewußtsein der
Freiheit, nicht gehört, darüber wird man kaum mehr zweifelhaft sein, und die
Zahl der philosophischen Sätze, denen das Kriterium der wissenschaftlichen


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[0249] Die französische Philosophie des 19. Jahrhunderts. pliilosoplics kran^ius du XIX. sidelo, par II. 'I'aine, iMLlLli öltive cle- I'üeole normale, ilovleur lo^res. 1'uris, IlselleUe el. t^o. — ^ ^ ^' Maine de Biran. DaS Buch, an welches wir heute unsere Betrachtungen knüpfen, verdient zunächst durch seinen innern Werth unsere Aufmerksamkeit. Man mag den leicht¬ fertigen Ton mißbilligen, der unter den Anhängern der bisherigen Philosophie in Frankreich lebhaften Unwillen hervorgerufen zu haben scheint; man wird nicht leugnen, daß der Verfasser sehr wohl weiß, um was es sich handelt, daß er die Fragen, deren Aufklärung er unternimmt, gründlich studirt hat, und daß er Scharfsinn und Witz genug besitzt, seine eignen Gedanken auch seinem Leser deutlich und eindringlich zu machen. So weit wird das Urtheil allge¬ mein übereinstimmen. Wir gehen aber weiter und behaupten, daß er seine An¬ sicht, der Eklekticismus sei keine Wissenschaft im strengern Sinn des Worts, mit vollkommner Evidenz begründet hat. Seine Einseitigkeit liegt nur darin, daß er den Begriff der Wissenschaft auf alle Gebiete der Philosophie anwendet. Es ist das freilich ein so weitverbreitetes Norurtheil, daß von denen, welche TaineS Resul¬ tate am heftigsten anfechten, die meisten dieser Voraussetzung beitreten werden. Daß sie aber unhaltbar ist, beweist der erste Blick auf eine Geschichte der Philo¬ sophie. Wir Deutschen haben in der Philosophie eine viel reichere Entwicklung durch¬ gemacht, als die Franzosen, und sind mit Recht stolz darauf; aber auch wir sind jetzt auf dem Punkt angelangt, unsern bisherigen Gang einmal voraussetzungslos zu prüfen und ein Inventarium des bleibenden Gewinns aufzustellen,»den die Wissenschaft auf demselben davongetragen hat. Kenner und Nichtkenner haben das stille Gefühl, daß dies Inventarium bescheidener ausfallen wird, als unser Selbstgefühl verhieß. Das Kennzeichen der Wissenschaft besteht darin, daß sie ihrem Jünger Thatsachen entdeckt, welche die andern nicht wissen. Daß zu solchen Thatsachen der Satz von der Identität deS Seins und des Nichtseins, oder die Definition der Geschschte, sie sei ein Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, nicht gehört, darüber wird man kaum mehr zweifelhaft sein, und die Zahl der philosophischen Sätze, denen das Kriterium der wissenschaftlichen Grenzboten III.->8ö7. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/249>, abgerufen am 04.12.2024.