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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Wir finden es nach solchen Proben unnöthig, dem Verfasser weiter in
seinen polemischen Erörterungen zu folgen und wollen lieber gleich zu seiner
Auslegung der Schöpfungsgeschichte übergehen.

Hier tritt uns denn zuerst eine Conjectur entgegen, wie sie kühner,
kolossaler wol noch nie einem Ausleger entsprungen ist. Es ist nämlich, wie
Wagner sagt, von jeher streitig gewesen, ob der erste Satz des alten Testa¬
ments, ("im Anfang schuf Gott Himmel und Erde") und der zweite ("und die
Erde war wüste und leer") eine ununterbrochene Zeitfolge beschreiben sollten,
oder ob zwischen den in beiden erzählten Ereignissen ein unbestimmter Zeitraum
verflossen sei. Hier eine Lücke anzunehmen, hätten sich, wie er sagt, schon
längst einige Ausleger veranlaßt gesehen, weil in der Schöpfungsgeschichte
gar keine Zeit angegeben wäre, zu welcher der Fall der Engel stattgefunden.
Dies sei nun, wie er mit andern annehme, zwischen dem ersten und zweiten
Bibelverse geschehen, da hätten die gefallenen Engel die ganze Erde verwüstet,
und Gott hätte in dem Sechstagewerke eine neue Ordnung wieder herstellen
müssen. Unsre Leser mögen das nicht für einen Scherz halten; es ist ernst¬
haft gemeint, und der Verfasser beruft sich auf andere bekannte Namen: Buck-
land, Schubert, Hengstenberg und Kurtz, unter denen namentlich der letztere
die Sache mit großer Klarheit (!) behandelt habe. Wagner hat früher,
wie es scheint, vor dieser kühnen Auslegung selbst gestutzt; aber jetzt zieht er
sie auch der andern (nämlich dem natürlichen Verständnisse) vor. "Namentlich,
fährt er fort, sind wir mit ihr, wie Hengstenberg richtig bemerkt, dem lästigen
Zwange überhoben, die Entstehung der untergegangenen Organismen in das
Sechstagewerk einzuzwängen, der Streit zwischen neptunischer und vulkanischer
Entstehung der Erde berührt dann die Bibel gar nicht, weil sie über diese
Punkte ein vollständiges Stillschweigen bewahrt und jeder geologischen Hypo¬
these gegenüber sich vollkommen indifferent verhält. Auch der Zeitraum der
einzelnen Tage des Sechstagewerks läßt sich leichter mit den Vorstellungen der
Geologen in Einklang bringen, weil nach der zweiten Deutung nicht die
Schöpfungsgeschichte des Universums, sondern nur die Restitution derselben zur
Aufnahme der Menschen berichtet wird."

Hier haben wir gleich die Nutzanwendung der kirchenväterlichen Lehre; in
die Verse der Schöpfungsgeschichte lassen sich die geologischen Theorien nicht
mehr hineinzwängen, man zwänge sie also zwischen dieselben, lese, zwischen
zwei Zeilen eine ganze Weltgeschichte und die Sache ist gemacht!

Bei der Erläuterung des ersten Tagewerks hat Wagner einen andern wun¬
dersamen Gedanken gefaßt. Nach der vorgetragenen Sinnahme hat er zwar nicht
nöthig, unter einem Tage einen unbestimmten, längern Zeitraum zu verstehen,
aber um sich für alle Fälle zu sichern, führt er an, daß man für die drei
letzten Tage jedenfalls mit einer vierundzwanzigstündigen Frist ausreiche, daß


Wir finden es nach solchen Proben unnöthig, dem Verfasser weiter in
seinen polemischen Erörterungen zu folgen und wollen lieber gleich zu seiner
Auslegung der Schöpfungsgeschichte übergehen.

Hier tritt uns denn zuerst eine Conjectur entgegen, wie sie kühner,
kolossaler wol noch nie einem Ausleger entsprungen ist. Es ist nämlich, wie
Wagner sagt, von jeher streitig gewesen, ob der erste Satz des alten Testa¬
ments, („im Anfang schuf Gott Himmel und Erde") und der zweite („und die
Erde war wüste und leer") eine ununterbrochene Zeitfolge beschreiben sollten,
oder ob zwischen den in beiden erzählten Ereignissen ein unbestimmter Zeitraum
verflossen sei. Hier eine Lücke anzunehmen, hätten sich, wie er sagt, schon
längst einige Ausleger veranlaßt gesehen, weil in der Schöpfungsgeschichte
gar keine Zeit angegeben wäre, zu welcher der Fall der Engel stattgefunden.
Dies sei nun, wie er mit andern annehme, zwischen dem ersten und zweiten
Bibelverse geschehen, da hätten die gefallenen Engel die ganze Erde verwüstet,
und Gott hätte in dem Sechstagewerke eine neue Ordnung wieder herstellen
müssen. Unsre Leser mögen das nicht für einen Scherz halten; es ist ernst¬
haft gemeint, und der Verfasser beruft sich auf andere bekannte Namen: Buck-
land, Schubert, Hengstenberg und Kurtz, unter denen namentlich der letztere
die Sache mit großer Klarheit (!) behandelt habe. Wagner hat früher,
wie es scheint, vor dieser kühnen Auslegung selbst gestutzt; aber jetzt zieht er
sie auch der andern (nämlich dem natürlichen Verständnisse) vor. „Namentlich,
fährt er fort, sind wir mit ihr, wie Hengstenberg richtig bemerkt, dem lästigen
Zwange überhoben, die Entstehung der untergegangenen Organismen in das
Sechstagewerk einzuzwängen, der Streit zwischen neptunischer und vulkanischer
Entstehung der Erde berührt dann die Bibel gar nicht, weil sie über diese
Punkte ein vollständiges Stillschweigen bewahrt und jeder geologischen Hypo¬
these gegenüber sich vollkommen indifferent verhält. Auch der Zeitraum der
einzelnen Tage des Sechstagewerks läßt sich leichter mit den Vorstellungen der
Geologen in Einklang bringen, weil nach der zweiten Deutung nicht die
Schöpfungsgeschichte des Universums, sondern nur die Restitution derselben zur
Aufnahme der Menschen berichtet wird."

Hier haben wir gleich die Nutzanwendung der kirchenväterlichen Lehre; in
die Verse der Schöpfungsgeschichte lassen sich die geologischen Theorien nicht
mehr hineinzwängen, man zwänge sie also zwischen dieselben, lese, zwischen
zwei Zeilen eine ganze Weltgeschichte und die Sache ist gemacht!

Bei der Erläuterung des ersten Tagewerks hat Wagner einen andern wun¬
dersamen Gedanken gefaßt. Nach der vorgetragenen Sinnahme hat er zwar nicht
nöthig, unter einem Tage einen unbestimmten, längern Zeitraum zu verstehen,
aber um sich für alle Fälle zu sichern, führt er an, daß man für die drei
letzten Tage jedenfalls mit einer vierundzwanzigstündigen Frist ausreiche, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/200>, abgerufen am 22.07.2024.