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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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seinen Inhalt entschiedener Voltairianer und die Maske eines Bonhomme,
welche der geistvolle Mann aufsteckt, ist zu durchsichtig, um nicht den feinen
überlegenen Spötter erkennen zu lassen.

Man darf nie vergessen, daß die Chanson für eine heitere Gesellschaft be¬
stimmt ist, und daher jede einsame Träumerei, jedes innige individuelle Gefühl
ausschließt. 'Wenn Bvranger in seinen zahlreichen Liebcsgedichten nichts
Anderes verherrlicht als das sinnliche Vergnügen, so ist das freilich die natür¬
liche Gemüthsstimmung des Voltairianers; aber es liegt auch in der Natur
der Dichtungsart. In einer lustigen Gesellschaft gibt man die tieferen Ge¬
heimnisse seines Herzens nicht Preis, eher stellt man sich etwas liederlich und
sucht die Figuren auf, die aller Welt bekannt sind und allgemeine Theil¬
nahme erwecken. Böranger, der Dichter, kennt nur die Fretillons, die
GottonS, die Catino, die Lisetten, kurz die lustigen Frauenzimmer, die
einen Tag in den andern leben (le all-idle en talbalas), leicht empfäng¬
lich für jeden neuen Eindruck, flüchtig und treulos, aber gutmüthig und
unter Umständen aufopfernd. Erbaulich sind die Geschichten nicht, die
von ihnen erzählt werden, aber voller Anmuth und für einen lustigen Kreis,
sür einen kräftigen Refrain außerordentlich geeignet. Fretillon als tragische
Erscheinung, wie es die modernsten Romantiker lieben, ist im höchsten Grade
widerwärtig; aber als flüchtiger Moment einer tollen Ausgelassenheit kann
man sie sich gefallen lassen. Auf einen Opernball geht man nicht grade, um
seine tieferen Gefühle gellend zu machen, und die Lieberreihe Bvmngers, die
sich mit der Liebeslust beschäftigt, stellt einen recht übermüthigen Fasching dar.


I^lheils, mit I^iiZöUe!
?u in'Sö trompö toujours;
Nsis vivo l-l griseUö!
poux, I^isellv,
Loire K no" amours.

Vielleicht am liebenswürdigsten ist diese Liederlichkeit, wenn der Dichter
die gute alte Frau schildert, die sich der schönern Zeiten erinnert, wo sie noch
jung war und den jungen Mädchen gute Lehren gibt; so in den Liedern:
meine Großmutter, die blinde Mutter, Madame Gregoire u. s. w. Dagegen
wird der Dichter widerlich, wenn er den gebildeten Mann herauskehrt und den
Cynismus poetisch darstellen will, wie z. B. in La Bacchante. einem steifen
anspruchsvollen Gedicht, dessen materialistische Schilderungen nur Ekel erregen.
Viel weniger anstößig sind die ausgelassenen Lieder, wo er mit sammt seiner
lustigen Gesellschaft sich dem Teufel ergibt, oder wol gar mit dem Teufel an
Ruchlosigkeit wetteifert. Das Recht der komischen Poesie ist von einem großen
Umfang und auf diesem Gebiet hat der Moralist nichts zu suchen; sobald
, aber der Dichter aus seinen Bildern Maximen macht, tritt das Recht und die


seinen Inhalt entschiedener Voltairianer und die Maske eines Bonhomme,
welche der geistvolle Mann aufsteckt, ist zu durchsichtig, um nicht den feinen
überlegenen Spötter erkennen zu lassen.

Man darf nie vergessen, daß die Chanson für eine heitere Gesellschaft be¬
stimmt ist, und daher jede einsame Träumerei, jedes innige individuelle Gefühl
ausschließt. 'Wenn Bvranger in seinen zahlreichen Liebcsgedichten nichts
Anderes verherrlicht als das sinnliche Vergnügen, so ist das freilich die natür¬
liche Gemüthsstimmung des Voltairianers; aber es liegt auch in der Natur
der Dichtungsart. In einer lustigen Gesellschaft gibt man die tieferen Ge¬
heimnisse seines Herzens nicht Preis, eher stellt man sich etwas liederlich und
sucht die Figuren auf, die aller Welt bekannt sind und allgemeine Theil¬
nahme erwecken. Böranger, der Dichter, kennt nur die Fretillons, die
GottonS, die Catino, die Lisetten, kurz die lustigen Frauenzimmer, die
einen Tag in den andern leben (le all-idle en talbalas), leicht empfäng¬
lich für jeden neuen Eindruck, flüchtig und treulos, aber gutmüthig und
unter Umständen aufopfernd. Erbaulich sind die Geschichten nicht, die
von ihnen erzählt werden, aber voller Anmuth und für einen lustigen Kreis,
sür einen kräftigen Refrain außerordentlich geeignet. Fretillon als tragische
Erscheinung, wie es die modernsten Romantiker lieben, ist im höchsten Grade
widerwärtig; aber als flüchtiger Moment einer tollen Ausgelassenheit kann
man sie sich gefallen lassen. Auf einen Opernball geht man nicht grade, um
seine tieferen Gefühle gellend zu machen, und die Lieberreihe Bvmngers, die
sich mit der Liebeslust beschäftigt, stellt einen recht übermüthigen Fasching dar.


I^lheils, mit I^iiZöUe!
?u in'Sö trompö toujours;
Nsis vivo l-l griseUö!
poux, I^isellv,
Loire K no« amours.

Vielleicht am liebenswürdigsten ist diese Liederlichkeit, wenn der Dichter
die gute alte Frau schildert, die sich der schönern Zeiten erinnert, wo sie noch
jung war und den jungen Mädchen gute Lehren gibt; so in den Liedern:
meine Großmutter, die blinde Mutter, Madame Gregoire u. s. w. Dagegen
wird der Dichter widerlich, wenn er den gebildeten Mann herauskehrt und den
Cynismus poetisch darstellen will, wie z. B. in La Bacchante. einem steifen
anspruchsvollen Gedicht, dessen materialistische Schilderungen nur Ekel erregen.
Viel weniger anstößig sind die ausgelassenen Lieder, wo er mit sammt seiner
lustigen Gesellschaft sich dem Teufel ergibt, oder wol gar mit dem Teufel an
Ruchlosigkeit wetteifert. Das Recht der komischen Poesie ist von einem großen
Umfang und auf diesem Gebiet hat der Moralist nichts zu suchen; sobald
, aber der Dichter aus seinen Bildern Maximen macht, tritt das Recht und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/192>, abgerufen am 25.08.2024.