Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Nachbar Frankreich noch lange Gelegenheit geben, sich mehr um deutsche
Verhältnisse zu kümmern als deutschem Selbstgefühl erträglich ist. Seit der
verhängnißvollen Zeit Ludwigs XIV. hat keine französische Regierung verfehlt,
die politische Zerrissenheit Deutschlands zu ihrem Vortheil auszubeuten; daß
auch der Kaiser dies zu thun versucht wird, ist selbstverständlich; nur daS mag
man fragen, was er Deutschland gegenüber für seinen Vortheil hält. Und
von diesem Standpunkt aus haben wir Deutsche allen Grund mit seiner Politik,
wie sie bis jetzt war, zufriedener zu sein als mit der seiner französischen Gegner.
Um von den Socialisten ganz zu schweigen, weder die Republik unter Cavaignac
noch daS Ministerium Thiers haben uns Deutschen irgend welchen Grund gegeben,
ihre Zeiten zurückzuwünschen. Wenn Napoleon III., wie erzählt wird, gern aus-
spricht, daß ein Princip seiner auswärtigen Politik sein müsse, die Nationali¬
täten zu achten, denn der erste Kaiser seines Hauses habe das Verkennen die¬
ses Princips theuer bezahlt, so ist ein solcher Ausspruch, wie ehrlich er gemeint
sein mag, doch keine Garantie für immer und für veränderte Verhältnisse.
Aber daß der Kaiser die Ausgabe eines französischen Politikers Deutschland
gegenüber größer faßt, als Thiers oder die gegenwärtigen französischen Re¬
publikaner, das ist ebenfalls außer Zweifel. Er kennt deutsches Wesen und
deutsche Verhältnisse besser als irgend ein französischer Staatsmann, er hat
durchaus keine höhere Meinung von der Festigkeit des deutschen Bundes alö
man zu Berlin und Wien hat; er versteht, so läßt sich annehmen, recht genau
die innere Rivalität der großen deutschen Staaten, die Gelüste kleinerer Re¬
gierungen; er ist wahrscheinlich sehr genau unterrichtet von den charakteristischen
Eigenheiten derer, welche gegenwärtig Deutschlands Politik in den Händen
haben, und er ist sicher gar nicht geneigt, die deutsche Gegenwart für besser zu
halten, als sie in Deutschland selbst geachtet wird. Aber er weiß auch genauer
als vielleicht irgend ein anderer Franzose, daß trotzdem Deutschland seit dem
letzten Kriege mit Frankreich große Fortschritte in seiner Kriegstüchtigkeit ge¬
macht hat, daß das Bundesheev bei weitem die beste Organisation von 1816
ist, und vor allem, daß Preußen und Oestreich zwar oft in entgegengesetzten
Interessen kämpfen, daß aber jeder von beiden Staaten für sein eignes höchstes
Interesse halten muß, jeden Fußbreit deutschen Bodens gegen Frankreich
bis aufs Aeußerste zu vertheidigen und daß es jetzt kein besseres Mittel gibt,
zwei große kriegerische Staaten in einem festen Bündniß zu vereinigen, als
ein Anschlag auf Belgien und 5en Rhein. Ja noch mehr. ES ist zur Zeit
schwerlich seine Politik, in dem civilisirten Europa französische Eroberungen zu
machen, so lange Afrika, die türkische Erbschaft und vielleicht daS entfernte
Asten sür Colonisation und Erploitirung fast unendliche Aussichten gewähren.
Er ist zuletzt in der orientalischen Frage, wie jüngst bei der neuenburger An-


21*

dem Nachbar Frankreich noch lange Gelegenheit geben, sich mehr um deutsche
Verhältnisse zu kümmern als deutschem Selbstgefühl erträglich ist. Seit der
verhängnißvollen Zeit Ludwigs XIV. hat keine französische Regierung verfehlt,
die politische Zerrissenheit Deutschlands zu ihrem Vortheil auszubeuten; daß
auch der Kaiser dies zu thun versucht wird, ist selbstverständlich; nur daS mag
man fragen, was er Deutschland gegenüber für seinen Vortheil hält. Und
von diesem Standpunkt aus haben wir Deutsche allen Grund mit seiner Politik,
wie sie bis jetzt war, zufriedener zu sein als mit der seiner französischen Gegner.
Um von den Socialisten ganz zu schweigen, weder die Republik unter Cavaignac
noch daS Ministerium Thiers haben uns Deutschen irgend welchen Grund gegeben,
ihre Zeiten zurückzuwünschen. Wenn Napoleon III., wie erzählt wird, gern aus-
spricht, daß ein Princip seiner auswärtigen Politik sein müsse, die Nationali¬
täten zu achten, denn der erste Kaiser seines Hauses habe das Verkennen die¬
ses Princips theuer bezahlt, so ist ein solcher Ausspruch, wie ehrlich er gemeint
sein mag, doch keine Garantie für immer und für veränderte Verhältnisse.
Aber daß der Kaiser die Ausgabe eines französischen Politikers Deutschland
gegenüber größer faßt, als Thiers oder die gegenwärtigen französischen Re¬
publikaner, das ist ebenfalls außer Zweifel. Er kennt deutsches Wesen und
deutsche Verhältnisse besser als irgend ein französischer Staatsmann, er hat
durchaus keine höhere Meinung von der Festigkeit des deutschen Bundes alö
man zu Berlin und Wien hat; er versteht, so läßt sich annehmen, recht genau
die innere Rivalität der großen deutschen Staaten, die Gelüste kleinerer Re¬
gierungen; er ist wahrscheinlich sehr genau unterrichtet von den charakteristischen
Eigenheiten derer, welche gegenwärtig Deutschlands Politik in den Händen
haben, und er ist sicher gar nicht geneigt, die deutsche Gegenwart für besser zu
halten, als sie in Deutschland selbst geachtet wird. Aber er weiß auch genauer
als vielleicht irgend ein anderer Franzose, daß trotzdem Deutschland seit dem
letzten Kriege mit Frankreich große Fortschritte in seiner Kriegstüchtigkeit ge¬
macht hat, daß das Bundesheev bei weitem die beste Organisation von 1816
ist, und vor allem, daß Preußen und Oestreich zwar oft in entgegengesetzten
Interessen kämpfen, daß aber jeder von beiden Staaten für sein eignes höchstes
Interesse halten muß, jeden Fußbreit deutschen Bodens gegen Frankreich
bis aufs Aeußerste zu vertheidigen und daß es jetzt kein besseres Mittel gibt,
zwei große kriegerische Staaten in einem festen Bündniß zu vereinigen, als
ein Anschlag auf Belgien und 5en Rhein. Ja noch mehr. ES ist zur Zeit
schwerlich seine Politik, in dem civilisirten Europa französische Eroberungen zu
machen, so lange Afrika, die türkische Erbschaft und vielleicht daS entfernte
Asten sür Colonisation und Erploitirung fast unendliche Aussichten gewähren.
Er ist zuletzt in der orientalischen Frage, wie jüngst bei der neuenburger An-


21*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0171" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104372"/>
          <p xml:id="ID_455" prev="#ID_454" next="#ID_456"> dem Nachbar Frankreich noch lange Gelegenheit geben, sich mehr um deutsche<lb/>
Verhältnisse zu kümmern als deutschem Selbstgefühl erträglich ist. Seit der<lb/>
verhängnißvollen Zeit Ludwigs XIV. hat keine französische Regierung verfehlt,<lb/>
die politische Zerrissenheit Deutschlands zu ihrem Vortheil auszubeuten; daß<lb/>
auch der Kaiser dies zu thun versucht wird, ist selbstverständlich; nur daS mag<lb/>
man fragen, was er Deutschland gegenüber für seinen Vortheil hält. Und<lb/>
von diesem Standpunkt aus haben wir Deutsche allen Grund mit seiner Politik,<lb/>
wie sie bis jetzt war, zufriedener zu sein als mit der seiner französischen Gegner.<lb/>
Um von den Socialisten ganz zu schweigen, weder die Republik unter Cavaignac<lb/>
noch daS Ministerium Thiers haben uns Deutschen irgend welchen Grund gegeben,<lb/>
ihre Zeiten zurückzuwünschen. Wenn Napoleon III., wie erzählt wird, gern aus-<lb/>
spricht, daß ein Princip seiner auswärtigen Politik sein müsse, die Nationali¬<lb/>
täten zu achten, denn der erste Kaiser seines Hauses habe das Verkennen die¬<lb/>
ses Princips theuer bezahlt, so ist ein solcher Ausspruch, wie ehrlich er gemeint<lb/>
sein mag, doch keine Garantie für immer und für veränderte Verhältnisse.<lb/>
Aber daß der Kaiser die Ausgabe eines französischen Politikers Deutschland<lb/>
gegenüber größer faßt, als Thiers oder die gegenwärtigen französischen Re¬<lb/>
publikaner, das ist ebenfalls außer Zweifel. Er kennt deutsches Wesen und<lb/>
deutsche Verhältnisse besser als irgend ein französischer Staatsmann, er hat<lb/>
durchaus keine höhere Meinung von der Festigkeit des deutschen Bundes alö<lb/>
man zu Berlin und Wien hat; er versteht, so läßt sich annehmen, recht genau<lb/>
die innere Rivalität der großen deutschen Staaten, die Gelüste kleinerer Re¬<lb/>
gierungen; er ist wahrscheinlich sehr genau unterrichtet von den charakteristischen<lb/>
Eigenheiten derer, welche gegenwärtig Deutschlands Politik in den Händen<lb/>
haben, und er ist sicher gar nicht geneigt, die deutsche Gegenwart für besser zu<lb/>
halten, als sie in Deutschland selbst geachtet wird. Aber er weiß auch genauer<lb/>
als vielleicht irgend ein anderer Franzose, daß trotzdem Deutschland seit dem<lb/>
letzten Kriege mit Frankreich große Fortschritte in seiner Kriegstüchtigkeit ge¬<lb/>
macht hat, daß das Bundesheev bei weitem die beste Organisation von 1816<lb/>
ist, und vor allem, daß Preußen und Oestreich zwar oft in entgegengesetzten<lb/>
Interessen kämpfen, daß aber jeder von beiden Staaten für sein eignes höchstes<lb/>
Interesse halten muß, jeden Fußbreit deutschen Bodens gegen Frankreich<lb/>
bis aufs Aeußerste zu vertheidigen und daß es jetzt kein besseres Mittel gibt,<lb/>
zwei große kriegerische Staaten in einem festen Bündniß zu vereinigen, als<lb/>
ein Anschlag auf Belgien und 5en Rhein. Ja noch mehr. ES ist zur Zeit<lb/>
schwerlich seine Politik, in dem civilisirten Europa französische Eroberungen zu<lb/>
machen, so lange Afrika, die türkische Erbschaft und vielleicht daS entfernte<lb/>
Asten sür Colonisation und Erploitirung fast unendliche Aussichten gewähren.<lb/>
Er ist zuletzt in der orientalischen Frage, wie jüngst bei der neuenburger An-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 21*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0171] dem Nachbar Frankreich noch lange Gelegenheit geben, sich mehr um deutsche Verhältnisse zu kümmern als deutschem Selbstgefühl erträglich ist. Seit der verhängnißvollen Zeit Ludwigs XIV. hat keine französische Regierung verfehlt, die politische Zerrissenheit Deutschlands zu ihrem Vortheil auszubeuten; daß auch der Kaiser dies zu thun versucht wird, ist selbstverständlich; nur daS mag man fragen, was er Deutschland gegenüber für seinen Vortheil hält. Und von diesem Standpunkt aus haben wir Deutsche allen Grund mit seiner Politik, wie sie bis jetzt war, zufriedener zu sein als mit der seiner französischen Gegner. Um von den Socialisten ganz zu schweigen, weder die Republik unter Cavaignac noch daS Ministerium Thiers haben uns Deutschen irgend welchen Grund gegeben, ihre Zeiten zurückzuwünschen. Wenn Napoleon III., wie erzählt wird, gern aus- spricht, daß ein Princip seiner auswärtigen Politik sein müsse, die Nationali¬ täten zu achten, denn der erste Kaiser seines Hauses habe das Verkennen die¬ ses Princips theuer bezahlt, so ist ein solcher Ausspruch, wie ehrlich er gemeint sein mag, doch keine Garantie für immer und für veränderte Verhältnisse. Aber daß der Kaiser die Ausgabe eines französischen Politikers Deutschland gegenüber größer faßt, als Thiers oder die gegenwärtigen französischen Re¬ publikaner, das ist ebenfalls außer Zweifel. Er kennt deutsches Wesen und deutsche Verhältnisse besser als irgend ein französischer Staatsmann, er hat durchaus keine höhere Meinung von der Festigkeit des deutschen Bundes alö man zu Berlin und Wien hat; er versteht, so läßt sich annehmen, recht genau die innere Rivalität der großen deutschen Staaten, die Gelüste kleinerer Re¬ gierungen; er ist wahrscheinlich sehr genau unterrichtet von den charakteristischen Eigenheiten derer, welche gegenwärtig Deutschlands Politik in den Händen haben, und er ist sicher gar nicht geneigt, die deutsche Gegenwart für besser zu halten, als sie in Deutschland selbst geachtet wird. Aber er weiß auch genauer als vielleicht irgend ein anderer Franzose, daß trotzdem Deutschland seit dem letzten Kriege mit Frankreich große Fortschritte in seiner Kriegstüchtigkeit ge¬ macht hat, daß das Bundesheev bei weitem die beste Organisation von 1816 ist, und vor allem, daß Preußen und Oestreich zwar oft in entgegengesetzten Interessen kämpfen, daß aber jeder von beiden Staaten für sein eignes höchstes Interesse halten muß, jeden Fußbreit deutschen Bodens gegen Frankreich bis aufs Aeußerste zu vertheidigen und daß es jetzt kein besseres Mittel gibt, zwei große kriegerische Staaten in einem festen Bündniß zu vereinigen, als ein Anschlag auf Belgien und 5en Rhein. Ja noch mehr. ES ist zur Zeit schwerlich seine Politik, in dem civilisirten Europa französische Eroberungen zu machen, so lange Afrika, die türkische Erbschaft und vielleicht daS entfernte Asten sür Colonisation und Erploitirung fast unendliche Aussichten gewähren. Er ist zuletzt in der orientalischen Frage, wie jüngst bei der neuenburger An- 21*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/171
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/171>, abgerufen am 25.08.2024.