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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Bewegung angaben; die Gegner aber wiesen auf die gesteigerten Zahlen von
Ein- und Ausfuhr und die noch mehr infolge derselben gesteigerte Genußfähig¬
keit hin. Es ist nun aber schon an und für sich ein gar bedenkliches Ding
mit Behauptungen dieser Art; man reißt dabei nur eine Thatsache oder auch
eine Zusammenfassung von solchen aus dem allgemeinen Zusammenhang
heraus, um sie unter beliebiger Nutzanwendung zu einem bestimmten Zweck zu
verarbeiten. Ist eS denn überall wahr, daß das Steigen oder das Sinken
einer Bevölkerung gleich sei dem Steigen und Sinken der allgemeinen Wohl¬
fahrt, oder auf der anderen Seite, daß größerer Verkehr und größere Genuß-
mittel ein absolut richtiger Maßstab seien sür den wirthschaftlichen Fortschritt eines
Volkes? Wenn irgend etwas durch neuere Untersuchungen und Erfahrungen
feststeht, so ist es grade der Satz, daß man sich vor der Unbedingtheit der
Folgerungen hüten muß, die aus solchen aus dem Zusammenhange des Ganzen
herausgerissenen Behauptungen entstehen. Jede nationalökonomische Thatsache
erhält erst ihren Werth als das Glied einer Reihe von anderweitigen Wir¬
kungen und Ursachen. Beide oben ausgestellte Gegensätze sind daher in Be¬
zug auf das, was sie beweisen sollen, vollkommen irrelevant. Die Bevöl¬
kerungszunahme in Frankreich ist vielleicht im Sinken begriffen; aber kann
das nicht beweisen, daß dies die Folge eines größeren Wohlstands, größerer
Vorsicht in Eingehung von Ehen und größerer sittlicher Enthaltsamkeit
gewesen ist? Dies Argument ist denn auch wirklich bereits aufgepflanzt
worden und zwar auch in deutschen Zeitungen, deren eine selbst so weit
gegangen ist, zur Unterstützung desselben eine im I. 4848 in Würtem-
berg eingetretene stärkere Bevölkerungszunahme der damals angeblich vor¬
herrschenden allgemeinen Genußsucht zuzuschreiben, eine widerliche Ansicht, die
zu widerlegen man Medicinern überlassen muß. Auf der anderen Seite weisen
die Zollregister vielleicht einen größern Handelsumsatz nach, aber liegt hierin
etwas, das unter den heutigen Verkehrsmitteln nicht als Nothwendigkeit sich er¬
geben muß? Die Genußfähigkeit hat zugenommen, aber in welchen Classen und
zu welchen Zwecken? Aber ferner kann die Handelsbewegung wie das Genu߬
streben ein Beweis des wirthschaftlichen Verkommens sein, indem man bei dem
Gefühl der unsichern Zustände an Geld und an Lebensfreude mitnimmt, was
nur immer möglich. Kurz und gut, mit solchen allgemeinen Behauptungen ist
nichts anzufangen; man muß sich in die Zustände selbst hineinvertiefen.

Gewohnheit und Tendenz treiben beide nicht selten dahin, den Zusammen¬
hang deS wirthschaftlichen und des politischen Lebens zu verkennen oder gar zu
leugnen, höchstens, daß man einzelnen Verfassungsformen oder gewissen außer¬
ordentlichen Vorkommnissen, wie Krieg oder Revolution, einen größern Ein¬
fluß auf den Verkehr einräumt. DaS ist aber eine sehr enge und ängstliche
Begrenzung, da die Wechselwirkung eine viel stärkere ist. Vielleicht war keine


Bewegung angaben; die Gegner aber wiesen auf die gesteigerten Zahlen von
Ein- und Ausfuhr und die noch mehr infolge derselben gesteigerte Genußfähig¬
keit hin. Es ist nun aber schon an und für sich ein gar bedenkliches Ding
mit Behauptungen dieser Art; man reißt dabei nur eine Thatsache oder auch
eine Zusammenfassung von solchen aus dem allgemeinen Zusammenhang
heraus, um sie unter beliebiger Nutzanwendung zu einem bestimmten Zweck zu
verarbeiten. Ist eS denn überall wahr, daß das Steigen oder das Sinken
einer Bevölkerung gleich sei dem Steigen und Sinken der allgemeinen Wohl¬
fahrt, oder auf der anderen Seite, daß größerer Verkehr und größere Genuß-
mittel ein absolut richtiger Maßstab seien sür den wirthschaftlichen Fortschritt eines
Volkes? Wenn irgend etwas durch neuere Untersuchungen und Erfahrungen
feststeht, so ist es grade der Satz, daß man sich vor der Unbedingtheit der
Folgerungen hüten muß, die aus solchen aus dem Zusammenhange des Ganzen
herausgerissenen Behauptungen entstehen. Jede nationalökonomische Thatsache
erhält erst ihren Werth als das Glied einer Reihe von anderweitigen Wir¬
kungen und Ursachen. Beide oben ausgestellte Gegensätze sind daher in Be¬
zug auf das, was sie beweisen sollen, vollkommen irrelevant. Die Bevöl¬
kerungszunahme in Frankreich ist vielleicht im Sinken begriffen; aber kann
das nicht beweisen, daß dies die Folge eines größeren Wohlstands, größerer
Vorsicht in Eingehung von Ehen und größerer sittlicher Enthaltsamkeit
gewesen ist? Dies Argument ist denn auch wirklich bereits aufgepflanzt
worden und zwar auch in deutschen Zeitungen, deren eine selbst so weit
gegangen ist, zur Unterstützung desselben eine im I. 4848 in Würtem-
berg eingetretene stärkere Bevölkerungszunahme der damals angeblich vor¬
herrschenden allgemeinen Genußsucht zuzuschreiben, eine widerliche Ansicht, die
zu widerlegen man Medicinern überlassen muß. Auf der anderen Seite weisen
die Zollregister vielleicht einen größern Handelsumsatz nach, aber liegt hierin
etwas, das unter den heutigen Verkehrsmitteln nicht als Nothwendigkeit sich er¬
geben muß? Die Genußfähigkeit hat zugenommen, aber in welchen Classen und
zu welchen Zwecken? Aber ferner kann die Handelsbewegung wie das Genu߬
streben ein Beweis des wirthschaftlichen Verkommens sein, indem man bei dem
Gefühl der unsichern Zustände an Geld und an Lebensfreude mitnimmt, was
nur immer möglich. Kurz und gut, mit solchen allgemeinen Behauptungen ist
nichts anzufangen; man muß sich in die Zustände selbst hineinvertiefen.

Gewohnheit und Tendenz treiben beide nicht selten dahin, den Zusammen¬
hang deS wirthschaftlichen und des politischen Lebens zu verkennen oder gar zu
leugnen, höchstens, daß man einzelnen Verfassungsformen oder gewissen außer¬
ordentlichen Vorkommnissen, wie Krieg oder Revolution, einen größern Ein¬
fluß auf den Verkehr einräumt. DaS ist aber eine sehr enge und ängstliche
Begrenzung, da die Wechselwirkung eine viel stärkere ist. Vielleicht war keine


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[0132] Bewegung angaben; die Gegner aber wiesen auf die gesteigerten Zahlen von Ein- und Ausfuhr und die noch mehr infolge derselben gesteigerte Genußfähig¬ keit hin. Es ist nun aber schon an und für sich ein gar bedenkliches Ding mit Behauptungen dieser Art; man reißt dabei nur eine Thatsache oder auch eine Zusammenfassung von solchen aus dem allgemeinen Zusammenhang heraus, um sie unter beliebiger Nutzanwendung zu einem bestimmten Zweck zu verarbeiten. Ist eS denn überall wahr, daß das Steigen oder das Sinken einer Bevölkerung gleich sei dem Steigen und Sinken der allgemeinen Wohl¬ fahrt, oder auf der anderen Seite, daß größerer Verkehr und größere Genuß- mittel ein absolut richtiger Maßstab seien sür den wirthschaftlichen Fortschritt eines Volkes? Wenn irgend etwas durch neuere Untersuchungen und Erfahrungen feststeht, so ist es grade der Satz, daß man sich vor der Unbedingtheit der Folgerungen hüten muß, die aus solchen aus dem Zusammenhange des Ganzen herausgerissenen Behauptungen entstehen. Jede nationalökonomische Thatsache erhält erst ihren Werth als das Glied einer Reihe von anderweitigen Wir¬ kungen und Ursachen. Beide oben ausgestellte Gegensätze sind daher in Be¬ zug auf das, was sie beweisen sollen, vollkommen irrelevant. Die Bevöl¬ kerungszunahme in Frankreich ist vielleicht im Sinken begriffen; aber kann das nicht beweisen, daß dies die Folge eines größeren Wohlstands, größerer Vorsicht in Eingehung von Ehen und größerer sittlicher Enthaltsamkeit gewesen ist? Dies Argument ist denn auch wirklich bereits aufgepflanzt worden und zwar auch in deutschen Zeitungen, deren eine selbst so weit gegangen ist, zur Unterstützung desselben eine im I. 4848 in Würtem- berg eingetretene stärkere Bevölkerungszunahme der damals angeblich vor¬ herrschenden allgemeinen Genußsucht zuzuschreiben, eine widerliche Ansicht, die zu widerlegen man Medicinern überlassen muß. Auf der anderen Seite weisen die Zollregister vielleicht einen größern Handelsumsatz nach, aber liegt hierin etwas, das unter den heutigen Verkehrsmitteln nicht als Nothwendigkeit sich er¬ geben muß? Die Genußfähigkeit hat zugenommen, aber in welchen Classen und zu welchen Zwecken? Aber ferner kann die Handelsbewegung wie das Genu߬ streben ein Beweis des wirthschaftlichen Verkommens sein, indem man bei dem Gefühl der unsichern Zustände an Geld und an Lebensfreude mitnimmt, was nur immer möglich. Kurz und gut, mit solchen allgemeinen Behauptungen ist nichts anzufangen; man muß sich in die Zustände selbst hineinvertiefen. Gewohnheit und Tendenz treiben beide nicht selten dahin, den Zusammen¬ hang deS wirthschaftlichen und des politischen Lebens zu verkennen oder gar zu leugnen, höchstens, daß man einzelnen Verfassungsformen oder gewissen außer¬ ordentlichen Vorkommnissen, wie Krieg oder Revolution, einen größern Ein¬ fluß auf den Verkehr einräumt. DaS ist aber eine sehr enge und ängstliche Begrenzung, da die Wechselwirkung eine viel stärkere ist. Vielleicht war keine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/132>, abgerufen am 24.08.2024.