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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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einer geistigen Kraft errungen worden ist, möge es selbst nur gewöhnlicher
religiöser oder politischer Fanatismus sein, und sicher wird diese Kraft ver¬
suchen, ihre Richtung zur maßgebenden zu machen. Erhebt aber die siegende
Gewalt, um dem zu entgehen, die Ideenlosigkeit selbst auf den Thron, so muß
sie sich dennoch an kleine und zu oft gradezu an gemeine Leidenschaften
wenden. Unter der Rückwirkung der dadurch hervorgerufenen Zustände er¬
lahmt denn die Reaction und wird gradezu unfähig, ihre Versprechungen zu
halten, wenn sie sich nicht noch Schlimmeres vorbereitet.

Daß in unsern Tagen solche Phasen der Geschichte rascher durchlaufen
werden, erkennbar selbst für Viele, deren politische Sehergabe sonst grade nicht
sehr groß ist, hat man figürlich damit bezeichnen wollen, daß wir in der Zeit
der Eisenbahnen und des elektrischen Telegraphen leben. Und doch liegt in
dieser Wendung wol kaum mehr, als der sachgemäße Ausdruck einer nach¬
weisbaren Thatsache. Denn nicht blos die Ideen verbreiten sich schneller und
üben dadurch eine größere Ansteckungsfähigkeit aus, sondern auch die sociale
Einwirkung einer jeden den Verkehr berührenden Begebenheit oder Maßregel
zieht raschere Wellenkreise um sich herum. Der europäische Geldmarkt -- dies
Wort im Sinne der Fondsbörsen genommen -- ist schon lange eine Einheit; der
Waarenmarkt wird eS aber nur nicht wegen der Verschiedenheit der Bedürfnisse
und Zahlfähigkeit der einzelnen Gegenden; aber er strebt unter dem Einfluß
der raschen und regelmäßigen Verbindungen eine größere Ausgleichung an, als
je früher. Die Menschheit lebt also in Wirklichkeit schneller als sonst, um so
länger aber der einzelne Mensch, der jetzt Erfahrungen in wenige Jahre zu¬
sammenfassen kann, wozu sonst halbe und ganze Generationen gehörten, ein
Umstand, der auf die weitere Entwicklung der Geschichte zweifellos von der
größten Bedeutung werden muß, da der Mensch in der Regel nur im Stande
ist, seine eignen Erlebnisse zu begreifen und nützlich zu verwenden.

Wir haben in dem Zeitraum von nicht vollen zehn Jahren massen¬
hafte und gewaltige Revolutionen hinter uns und eine weitgreifende ebenso
allgemeine Reaction, einen kolossalen Krieg und was mehr ist als dies alles
einen totalen Umschwung in den Ideen und Zeitrichtungen. Wer letzteren
nicht zu sehen vermag, der halte die Bestrebungen vor und nach 1848 an¬
einander, und die Ziele, welche sich hinter den Bestrebungen verbargen.
Jugendlich frischer ist man vielleicht vor 1848 gewesen; aber männlicher, klarer
ist man seitdem erst geworden. Vom bloßen Wortschwall und vom Ver¬
graben in äußere politische Formen hat uns mehr als alles daS Schicksal
der französischen Nation geheilt. Und noch immer scheint sie bestimmt, aus
eigene Kosten diejenigen Experimente zu machen, von denen das übrige Europa
zu lernen hat. Von Frankreich ist die Revolution wie die Reaction aus¬
gegangen, dort hat letztere ihre Vollendung gesunden und dort -- scheint sie


einer geistigen Kraft errungen worden ist, möge es selbst nur gewöhnlicher
religiöser oder politischer Fanatismus sein, und sicher wird diese Kraft ver¬
suchen, ihre Richtung zur maßgebenden zu machen. Erhebt aber die siegende
Gewalt, um dem zu entgehen, die Ideenlosigkeit selbst auf den Thron, so muß
sie sich dennoch an kleine und zu oft gradezu an gemeine Leidenschaften
wenden. Unter der Rückwirkung der dadurch hervorgerufenen Zustände er¬
lahmt denn die Reaction und wird gradezu unfähig, ihre Versprechungen zu
halten, wenn sie sich nicht noch Schlimmeres vorbereitet.

Daß in unsern Tagen solche Phasen der Geschichte rascher durchlaufen
werden, erkennbar selbst für Viele, deren politische Sehergabe sonst grade nicht
sehr groß ist, hat man figürlich damit bezeichnen wollen, daß wir in der Zeit
der Eisenbahnen und des elektrischen Telegraphen leben. Und doch liegt in
dieser Wendung wol kaum mehr, als der sachgemäße Ausdruck einer nach¬
weisbaren Thatsache. Denn nicht blos die Ideen verbreiten sich schneller und
üben dadurch eine größere Ansteckungsfähigkeit aus, sondern auch die sociale
Einwirkung einer jeden den Verkehr berührenden Begebenheit oder Maßregel
zieht raschere Wellenkreise um sich herum. Der europäische Geldmarkt — dies
Wort im Sinne der Fondsbörsen genommen — ist schon lange eine Einheit; der
Waarenmarkt wird eS aber nur nicht wegen der Verschiedenheit der Bedürfnisse
und Zahlfähigkeit der einzelnen Gegenden; aber er strebt unter dem Einfluß
der raschen und regelmäßigen Verbindungen eine größere Ausgleichung an, als
je früher. Die Menschheit lebt also in Wirklichkeit schneller als sonst, um so
länger aber der einzelne Mensch, der jetzt Erfahrungen in wenige Jahre zu¬
sammenfassen kann, wozu sonst halbe und ganze Generationen gehörten, ein
Umstand, der auf die weitere Entwicklung der Geschichte zweifellos von der
größten Bedeutung werden muß, da der Mensch in der Regel nur im Stande
ist, seine eignen Erlebnisse zu begreifen und nützlich zu verwenden.

Wir haben in dem Zeitraum von nicht vollen zehn Jahren massen¬
hafte und gewaltige Revolutionen hinter uns und eine weitgreifende ebenso
allgemeine Reaction, einen kolossalen Krieg und was mehr ist als dies alles
einen totalen Umschwung in den Ideen und Zeitrichtungen. Wer letzteren
nicht zu sehen vermag, der halte die Bestrebungen vor und nach 1848 an¬
einander, und die Ziele, welche sich hinter den Bestrebungen verbargen.
Jugendlich frischer ist man vielleicht vor 1848 gewesen; aber männlicher, klarer
ist man seitdem erst geworden. Vom bloßen Wortschwall und vom Ver¬
graben in äußere politische Formen hat uns mehr als alles daS Schicksal
der französischen Nation geheilt. Und noch immer scheint sie bestimmt, aus
eigene Kosten diejenigen Experimente zu machen, von denen das übrige Europa
zu lernen hat. Von Frankreich ist die Revolution wie die Reaction aus¬
gegangen, dort hat letztere ihre Vollendung gesunden und dort — scheint sie


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[0130] einer geistigen Kraft errungen worden ist, möge es selbst nur gewöhnlicher religiöser oder politischer Fanatismus sein, und sicher wird diese Kraft ver¬ suchen, ihre Richtung zur maßgebenden zu machen. Erhebt aber die siegende Gewalt, um dem zu entgehen, die Ideenlosigkeit selbst auf den Thron, so muß sie sich dennoch an kleine und zu oft gradezu an gemeine Leidenschaften wenden. Unter der Rückwirkung der dadurch hervorgerufenen Zustände er¬ lahmt denn die Reaction und wird gradezu unfähig, ihre Versprechungen zu halten, wenn sie sich nicht noch Schlimmeres vorbereitet. Daß in unsern Tagen solche Phasen der Geschichte rascher durchlaufen werden, erkennbar selbst für Viele, deren politische Sehergabe sonst grade nicht sehr groß ist, hat man figürlich damit bezeichnen wollen, daß wir in der Zeit der Eisenbahnen und des elektrischen Telegraphen leben. Und doch liegt in dieser Wendung wol kaum mehr, als der sachgemäße Ausdruck einer nach¬ weisbaren Thatsache. Denn nicht blos die Ideen verbreiten sich schneller und üben dadurch eine größere Ansteckungsfähigkeit aus, sondern auch die sociale Einwirkung einer jeden den Verkehr berührenden Begebenheit oder Maßregel zieht raschere Wellenkreise um sich herum. Der europäische Geldmarkt — dies Wort im Sinne der Fondsbörsen genommen — ist schon lange eine Einheit; der Waarenmarkt wird eS aber nur nicht wegen der Verschiedenheit der Bedürfnisse und Zahlfähigkeit der einzelnen Gegenden; aber er strebt unter dem Einfluß der raschen und regelmäßigen Verbindungen eine größere Ausgleichung an, als je früher. Die Menschheit lebt also in Wirklichkeit schneller als sonst, um so länger aber der einzelne Mensch, der jetzt Erfahrungen in wenige Jahre zu¬ sammenfassen kann, wozu sonst halbe und ganze Generationen gehörten, ein Umstand, der auf die weitere Entwicklung der Geschichte zweifellos von der größten Bedeutung werden muß, da der Mensch in der Regel nur im Stande ist, seine eignen Erlebnisse zu begreifen und nützlich zu verwenden. Wir haben in dem Zeitraum von nicht vollen zehn Jahren massen¬ hafte und gewaltige Revolutionen hinter uns und eine weitgreifende ebenso allgemeine Reaction, einen kolossalen Krieg und was mehr ist als dies alles einen totalen Umschwung in den Ideen und Zeitrichtungen. Wer letzteren nicht zu sehen vermag, der halte die Bestrebungen vor und nach 1848 an¬ einander, und die Ziele, welche sich hinter den Bestrebungen verbargen. Jugendlich frischer ist man vielleicht vor 1848 gewesen; aber männlicher, klarer ist man seitdem erst geworden. Vom bloßen Wortschwall und vom Ver¬ graben in äußere politische Formen hat uns mehr als alles daS Schicksal der französischen Nation geheilt. Und noch immer scheint sie bestimmt, aus eigene Kosten diejenigen Experimente zu machen, von denen das übrige Europa zu lernen hat. Von Frankreich ist die Revolution wie die Reaction aus¬ gegangen, dort hat letztere ihre Vollendung gesunden und dort — scheint sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/130>, abgerufen am 12.12.2024.