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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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die gewöhnliche Menschheit erhoben haben und vermöge des höher" Grades
von Glauben, den sie besitzen, Wunder verrichten können. "Wir müssen solche
Fakirs ehren," sagte Hassan, ,,denn man kann ja nicht wissen, ob es nicht
der Kalb ist."

Der Kalb (das Wort bedeutet Achse) ist ein geheimnißvolles gespenstisches
Wesen, das als Oberster der Derwische und als Inbegriff aller Vollkommen¬
heiten, welche sich durch die Uebungen derselben erreichen lassen, aufgefaßt wird.
Obschon er häufig unter den Menschen erscheint, kennen ihn doch nur die
Welis, seine unmittelbaren Untergebenen, aus deren Mitte der hervorgeht,
welchem, wenn der Kalb stirbt, seine Würde und die mit ihr verbundenen
Gaben verliehen werden. Der erste Kalb soll der Prophet Elias gewesen sein,
jpä'ter bekleideten nach Hassans Bericht die Stifter der vier großen Derwisch-
vrden dieses Amt. Zu seinen Eigenschaften gehört die Macht, sich mit der
Schnelle des Gedankens von einem Orte zum andern versetzen zu können.
Allen Dingen steht er auf den Grund. Sein Aeußeres ist bescheiden, seine
Kleidung ärmlich. In Gestalt eines freundlichen alten Mannes wandert er
durch die ganze Welt, um den Menschen die vom Schicksal bestimmten Seg¬
nungen oder Leiden zuzutheilen, die gottlos Handelnden mit sanftem Tadel zur
Besserung zu ernähren und besonders die Heuchler auf die Strafe ihres
Thuns aufmerksam zu machen, die in der Verbannung in die siebente Hölle
besteht. Lieblingsaufenthaltsorte von ihm sind das Dach der Kaabah zu Mekka,
wo man ihn in jeder Mitternachtsstunde den Ruf: "O Barmherzigster der Barm¬
herzigen!" ausstoßen hört, ferner das Grab des erwähnten Said Achmed El
Bidaui zu Tarda, endlich eine kleine Nische Hintex dem Bab Zuweileh, einem
Thore Kairos. Abergläubische Leute sagen, wenn sie hier vorübergehen, das
erste Capitel des Koran her, solche, die an Zahnschmerzen leiden, schlagen, um
den Schmerz los zu werden, unter Anrufung des Kalb einen Nagel in daS
Thor, Neugierige blicken dahinter, um ihn für den Fall, daß er gerade zu¬
gegen wäre, kennen zu lernen. Indeß soll ihn nur selten jemand zu sehen
bekommen.

Ein Kaufmann, der sehnlich darnach verlangte, unter die Welis, weiche dem
Kalb als Boten und Vollstrecker seiner Befehle dienen, aufgenommen zu werden,
wendete sich an einen Schech, den die öffentliche Meinung als einen Weli
bezeichnete, und erbat sich von ihm die Gunst, ihm eine Zusammenkunft mit
dem Kalb zu vermitteln. Er bekam die Weisung, am nächsten Morgen sich
nach der Moschee zu begeben, welche hart neben dem Bab Zuweileh steht, der
Erste, der ihm auf dem Wege dahin begegnen werde, sei der Gesuchte. Der
Mann that, wie ihm gerathen, fand den Kalb i" einem ehrwürdigen Greise,
der einen schlechten, braunen Kaftan trug, und brachte, nachdem er ihm die
Hand geküßt, sein Anliegen um Ausnahme unter die Welis vor. Dasselbe


die gewöhnliche Menschheit erhoben haben und vermöge des höher» Grades
von Glauben, den sie besitzen, Wunder verrichten können. „Wir müssen solche
Fakirs ehren," sagte Hassan, ,,denn man kann ja nicht wissen, ob es nicht
der Kalb ist."

Der Kalb (das Wort bedeutet Achse) ist ein geheimnißvolles gespenstisches
Wesen, das als Oberster der Derwische und als Inbegriff aller Vollkommen¬
heiten, welche sich durch die Uebungen derselben erreichen lassen, aufgefaßt wird.
Obschon er häufig unter den Menschen erscheint, kennen ihn doch nur die
Welis, seine unmittelbaren Untergebenen, aus deren Mitte der hervorgeht,
welchem, wenn der Kalb stirbt, seine Würde und die mit ihr verbundenen
Gaben verliehen werden. Der erste Kalb soll der Prophet Elias gewesen sein,
jpä'ter bekleideten nach Hassans Bericht die Stifter der vier großen Derwisch-
vrden dieses Amt. Zu seinen Eigenschaften gehört die Macht, sich mit der
Schnelle des Gedankens von einem Orte zum andern versetzen zu können.
Allen Dingen steht er auf den Grund. Sein Aeußeres ist bescheiden, seine
Kleidung ärmlich. In Gestalt eines freundlichen alten Mannes wandert er
durch die ganze Welt, um den Menschen die vom Schicksal bestimmten Seg¬
nungen oder Leiden zuzutheilen, die gottlos Handelnden mit sanftem Tadel zur
Besserung zu ernähren und besonders die Heuchler auf die Strafe ihres
Thuns aufmerksam zu machen, die in der Verbannung in die siebente Hölle
besteht. Lieblingsaufenthaltsorte von ihm sind das Dach der Kaabah zu Mekka,
wo man ihn in jeder Mitternachtsstunde den Ruf: „O Barmherzigster der Barm¬
herzigen!" ausstoßen hört, ferner das Grab des erwähnten Said Achmed El
Bidaui zu Tarda, endlich eine kleine Nische Hintex dem Bab Zuweileh, einem
Thore Kairos. Abergläubische Leute sagen, wenn sie hier vorübergehen, das
erste Capitel des Koran her, solche, die an Zahnschmerzen leiden, schlagen, um
den Schmerz los zu werden, unter Anrufung des Kalb einen Nagel in daS
Thor, Neugierige blicken dahinter, um ihn für den Fall, daß er gerade zu¬
gegen wäre, kennen zu lernen. Indeß soll ihn nur selten jemand zu sehen
bekommen.

Ein Kaufmann, der sehnlich darnach verlangte, unter die Welis, weiche dem
Kalb als Boten und Vollstrecker seiner Befehle dienen, aufgenommen zu werden,
wendete sich an einen Schech, den die öffentliche Meinung als einen Weli
bezeichnete, und erbat sich von ihm die Gunst, ihm eine Zusammenkunft mit
dem Kalb zu vermitteln. Er bekam die Weisung, am nächsten Morgen sich
nach der Moschee zu begeben, welche hart neben dem Bab Zuweileh steht, der
Erste, der ihm auf dem Wege dahin begegnen werde, sei der Gesuchte. Der
Mann that, wie ihm gerathen, fand den Kalb i» einem ehrwürdigen Greise,
der einen schlechten, braunen Kaftan trug, und brachte, nachdem er ihm die
Hand geküßt, sein Anliegen um Ausnahme unter die Welis vor. Dasselbe


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[0504] die gewöhnliche Menschheit erhoben haben und vermöge des höher» Grades von Glauben, den sie besitzen, Wunder verrichten können. „Wir müssen solche Fakirs ehren," sagte Hassan, ,,denn man kann ja nicht wissen, ob es nicht der Kalb ist." Der Kalb (das Wort bedeutet Achse) ist ein geheimnißvolles gespenstisches Wesen, das als Oberster der Derwische und als Inbegriff aller Vollkommen¬ heiten, welche sich durch die Uebungen derselben erreichen lassen, aufgefaßt wird. Obschon er häufig unter den Menschen erscheint, kennen ihn doch nur die Welis, seine unmittelbaren Untergebenen, aus deren Mitte der hervorgeht, welchem, wenn der Kalb stirbt, seine Würde und die mit ihr verbundenen Gaben verliehen werden. Der erste Kalb soll der Prophet Elias gewesen sein, jpä'ter bekleideten nach Hassans Bericht die Stifter der vier großen Derwisch- vrden dieses Amt. Zu seinen Eigenschaften gehört die Macht, sich mit der Schnelle des Gedankens von einem Orte zum andern versetzen zu können. Allen Dingen steht er auf den Grund. Sein Aeußeres ist bescheiden, seine Kleidung ärmlich. In Gestalt eines freundlichen alten Mannes wandert er durch die ganze Welt, um den Menschen die vom Schicksal bestimmten Seg¬ nungen oder Leiden zuzutheilen, die gottlos Handelnden mit sanftem Tadel zur Besserung zu ernähren und besonders die Heuchler auf die Strafe ihres Thuns aufmerksam zu machen, die in der Verbannung in die siebente Hölle besteht. Lieblingsaufenthaltsorte von ihm sind das Dach der Kaabah zu Mekka, wo man ihn in jeder Mitternachtsstunde den Ruf: „O Barmherzigster der Barm¬ herzigen!" ausstoßen hört, ferner das Grab des erwähnten Said Achmed El Bidaui zu Tarda, endlich eine kleine Nische Hintex dem Bab Zuweileh, einem Thore Kairos. Abergläubische Leute sagen, wenn sie hier vorübergehen, das erste Capitel des Koran her, solche, die an Zahnschmerzen leiden, schlagen, um den Schmerz los zu werden, unter Anrufung des Kalb einen Nagel in daS Thor, Neugierige blicken dahinter, um ihn für den Fall, daß er gerade zu¬ gegen wäre, kennen zu lernen. Indeß soll ihn nur selten jemand zu sehen bekommen. Ein Kaufmann, der sehnlich darnach verlangte, unter die Welis, weiche dem Kalb als Boten und Vollstrecker seiner Befehle dienen, aufgenommen zu werden, wendete sich an einen Schech, den die öffentliche Meinung als einen Weli bezeichnete, und erbat sich von ihm die Gunst, ihm eine Zusammenkunft mit dem Kalb zu vermitteln. Er bekam die Weisung, am nächsten Morgen sich nach der Moschee zu begeben, welche hart neben dem Bab Zuweileh steht, der Erste, der ihm auf dem Wege dahin begegnen werde, sei der Gesuchte. Der Mann that, wie ihm gerathen, fand den Kalb i» einem ehrwürdigen Greise, der einen schlechten, braunen Kaftan trug, und brachte, nachdem er ihm die Hand geküßt, sein Anliegen um Ausnahme unter die Welis vor. Dasselbe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/504>, abgerufen am 01.09.2024.