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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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befahl diesen, 30,000 Mann Infanterie und Cavalerie zusammenzubringen.
Diese Macht sollte bei Asterabad und Balfrusch gelandet werden, um die
Nuhe in den persischen Provinzen Khorasan und Masanderan zu erhalten.
Der Abschluß des Friedens fiel zwar störend in das Unternehmen, indeß ist
bis jetzt nicht bekannt geworden, daß die aufgebotenen Häuptlinge wieder in ihre
Zelte entlassen sind. Die russischen Adler lauern immer noch am Südrande
des kaspischen Meeres auf den Augenblick, wo sie über den vererdenden Staat
herfallen können, dessen Heer, das so jämmerlich vor den Engländern gelaufen
ist, jetzt aus Furcht vor den turkomanischen Räubern nicht einmal nach
Hause zurückzumarschiren wagt und in vollständiger Auflösung begriffen ist.

Die Engländer liegen bei Buschir und die Russen bei Asterabad, die Eng¬
länder am Hindukuh und die Russen vor Khokand. Diese Entfernungen, wie
ungeheuer sie nach europäischen Begriffen sein mögen, sind doch nach dem
Maße der astatischen Handelsstraßen gemessen so klein geworden, daß die Span¬
nung zwischen beiden Mächten sich schon bis zu "er Abneigung feindlicher
Nachbarn steigert.

Doch noch auf anderm Gebiet scheint den beiden Nebenbuhlern eine Be¬
gegnung zu drohen. Noch sind nur unzuverlässige Gerüchte in die Oeffent-
lichkeit gekommen über gewaltige Fortschritte, welche Nußland von Sibirien
aus in den nördlichen Landschaften Chinas gemacht habe. Von Kiächta aus,
ja von dem äußersten Osten Sibiriens soll Rußlands Macht bis tief in das
Innere Chinas gedrungen sein, vielleicht im Einverständniß mit der hilflosen
Regierung des Reiches von 400 Millionen Menschen. Wenig ist auf eine so
ungenaue Nachricht zu geben. Es ist sür Rußland nicht wol möglich, mit
regulären Truppen eine große Erpedition von Kiächta ober gar von Nertschinsk
aus zu machen. Wol aber ist eine Organisation und militärische Unterstützung
der kriegerischen Grenzvölker Chinas durch Rußland möglich, und wol kann
dadurch der Verfall des himmlischen Reiches beschleunigt und eine Abhängigkeit
chinesischer Landschaften von Rußland vorbereitet werden.

Bis jetzt war es das Schicksal beider Gegner, der Russen wie der Eng¬
länder, daß die militärischen Operationen des einen, gleich viel, welchen Er¬
folg sie hatten, dem andern den größeren Theil des Vortheils verschafften.
Wie die russischen Erpeditionen gegen Chiwa das Vordringen der Engländer
gegen Norden begünstigten, so hat jetzt der englisch-persische Krieg den Russen
Veranlassung zu militärischen Fortschritten am kaspischen Meere gegeben, und
die chinesischen Kriege der Engländer treiben den Russen nicht nur die Han-
delskaravanen der Chinesen zu, sondern auch die Häuptlinge und die Volks¬
stimmung in den Grenzlandschaften des himmlischen Reiches.

In der europäischen Türkei droht das Ableben eines Herrschers von
zarter Gesundheit die Unruhen einer Serailregierung und damit die vollständige


befahl diesen, 30,000 Mann Infanterie und Cavalerie zusammenzubringen.
Diese Macht sollte bei Asterabad und Balfrusch gelandet werden, um die
Nuhe in den persischen Provinzen Khorasan und Masanderan zu erhalten.
Der Abschluß des Friedens fiel zwar störend in das Unternehmen, indeß ist
bis jetzt nicht bekannt geworden, daß die aufgebotenen Häuptlinge wieder in ihre
Zelte entlassen sind. Die russischen Adler lauern immer noch am Südrande
des kaspischen Meeres auf den Augenblick, wo sie über den vererdenden Staat
herfallen können, dessen Heer, das so jämmerlich vor den Engländern gelaufen
ist, jetzt aus Furcht vor den turkomanischen Räubern nicht einmal nach
Hause zurückzumarschiren wagt und in vollständiger Auflösung begriffen ist.

Die Engländer liegen bei Buschir und die Russen bei Asterabad, die Eng¬
länder am Hindukuh und die Russen vor Khokand. Diese Entfernungen, wie
ungeheuer sie nach europäischen Begriffen sein mögen, sind doch nach dem
Maße der astatischen Handelsstraßen gemessen so klein geworden, daß die Span¬
nung zwischen beiden Mächten sich schon bis zu »er Abneigung feindlicher
Nachbarn steigert.

Doch noch auf anderm Gebiet scheint den beiden Nebenbuhlern eine Be¬
gegnung zu drohen. Noch sind nur unzuverlässige Gerüchte in die Oeffent-
lichkeit gekommen über gewaltige Fortschritte, welche Nußland von Sibirien
aus in den nördlichen Landschaften Chinas gemacht habe. Von Kiächta aus,
ja von dem äußersten Osten Sibiriens soll Rußlands Macht bis tief in das
Innere Chinas gedrungen sein, vielleicht im Einverständniß mit der hilflosen
Regierung des Reiches von 400 Millionen Menschen. Wenig ist auf eine so
ungenaue Nachricht zu geben. Es ist sür Rußland nicht wol möglich, mit
regulären Truppen eine große Erpedition von Kiächta ober gar von Nertschinsk
aus zu machen. Wol aber ist eine Organisation und militärische Unterstützung
der kriegerischen Grenzvölker Chinas durch Rußland möglich, und wol kann
dadurch der Verfall des himmlischen Reiches beschleunigt und eine Abhängigkeit
chinesischer Landschaften von Rußland vorbereitet werden.

Bis jetzt war es das Schicksal beider Gegner, der Russen wie der Eng¬
länder, daß die militärischen Operationen des einen, gleich viel, welchen Er¬
folg sie hatten, dem andern den größeren Theil des Vortheils verschafften.
Wie die russischen Erpeditionen gegen Chiwa das Vordringen der Engländer
gegen Norden begünstigten, so hat jetzt der englisch-persische Krieg den Russen
Veranlassung zu militärischen Fortschritten am kaspischen Meere gegeben, und
die chinesischen Kriege der Engländer treiben den Russen nicht nur die Han-
delskaravanen der Chinesen zu, sondern auch die Häuptlinge und die Volks¬
stimmung in den Grenzlandschaften des himmlischen Reiches.

In der europäischen Türkei droht das Ableben eines Herrschers von
zarter Gesundheit die Unruhen einer Serailregierung und damit die vollständige


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[0453] befahl diesen, 30,000 Mann Infanterie und Cavalerie zusammenzubringen. Diese Macht sollte bei Asterabad und Balfrusch gelandet werden, um die Nuhe in den persischen Provinzen Khorasan und Masanderan zu erhalten. Der Abschluß des Friedens fiel zwar störend in das Unternehmen, indeß ist bis jetzt nicht bekannt geworden, daß die aufgebotenen Häuptlinge wieder in ihre Zelte entlassen sind. Die russischen Adler lauern immer noch am Südrande des kaspischen Meeres auf den Augenblick, wo sie über den vererdenden Staat herfallen können, dessen Heer, das so jämmerlich vor den Engländern gelaufen ist, jetzt aus Furcht vor den turkomanischen Räubern nicht einmal nach Hause zurückzumarschiren wagt und in vollständiger Auflösung begriffen ist. Die Engländer liegen bei Buschir und die Russen bei Asterabad, die Eng¬ länder am Hindukuh und die Russen vor Khokand. Diese Entfernungen, wie ungeheuer sie nach europäischen Begriffen sein mögen, sind doch nach dem Maße der astatischen Handelsstraßen gemessen so klein geworden, daß die Span¬ nung zwischen beiden Mächten sich schon bis zu »er Abneigung feindlicher Nachbarn steigert. Doch noch auf anderm Gebiet scheint den beiden Nebenbuhlern eine Be¬ gegnung zu drohen. Noch sind nur unzuverlässige Gerüchte in die Oeffent- lichkeit gekommen über gewaltige Fortschritte, welche Nußland von Sibirien aus in den nördlichen Landschaften Chinas gemacht habe. Von Kiächta aus, ja von dem äußersten Osten Sibiriens soll Rußlands Macht bis tief in das Innere Chinas gedrungen sein, vielleicht im Einverständniß mit der hilflosen Regierung des Reiches von 400 Millionen Menschen. Wenig ist auf eine so ungenaue Nachricht zu geben. Es ist sür Rußland nicht wol möglich, mit regulären Truppen eine große Erpedition von Kiächta ober gar von Nertschinsk aus zu machen. Wol aber ist eine Organisation und militärische Unterstützung der kriegerischen Grenzvölker Chinas durch Rußland möglich, und wol kann dadurch der Verfall des himmlischen Reiches beschleunigt und eine Abhängigkeit chinesischer Landschaften von Rußland vorbereitet werden. Bis jetzt war es das Schicksal beider Gegner, der Russen wie der Eng¬ länder, daß die militärischen Operationen des einen, gleich viel, welchen Er¬ folg sie hatten, dem andern den größeren Theil des Vortheils verschafften. Wie die russischen Erpeditionen gegen Chiwa das Vordringen der Engländer gegen Norden begünstigten, so hat jetzt der englisch-persische Krieg den Russen Veranlassung zu militärischen Fortschritten am kaspischen Meere gegeben, und die chinesischen Kriege der Engländer treiben den Russen nicht nur die Han- delskaravanen der Chinesen zu, sondern auch die Häuptlinge und die Volks¬ stimmung in den Grenzlandschaften des himmlischen Reiches. In der europäischen Türkei droht das Ableben eines Herrschers von zarter Gesundheit die Unruhen einer Serailregierung und damit die vollständige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/453>, abgerufen am 28.07.2024.