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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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deutet schon der Ausdruck "Hausgesinde" hin, welcher die Familie mit Aus¬
schluß der Dienstboten bezeichnet. Aber auch weiter wird die Verwandtschaft
bis zu den entferntesten Graden festgehalten und unter dem allgemeinen Be¬
griffe von "Richterschaft" zusammengefaßt. "Wi sonn Nichte tohoop" --
wir sind Nichten zusammen -- ist eine häufig wiederkehrende Redensart, welche
diese entfernte, nicht mehr nach Graden zu bestimmende Verwandtschaft ebenso
bei Frauen wie bei Männern bedeutet. Mehr noch als das innige Familien¬
leben zeugt wol die Naivetät und Ungenirtheit im Umgange der jungen Leute
für eine große Reinheit und Unverdorbenheit der Sitten. Sehr oft geben
sich die jungen Leute Gesellschaften, bei denen nur das eine Gesetz waltet, daß
keiner der Aeltern daran Theil nehmen dürfe. Wo aber solche gemischte Gesell¬
schaften von "Alten" und "Jungen" stattfinden, da ziehen sich die Jungen
bald in ein besonderes Zimmer, meist auf den Boden, zurück, um ungestört
daselbst zu tafeln, zu scherzen und zu tanzen. Der "Kuß in Ehren" ist hier
noch eine liebenswürdige Thatsache.

Wenn das "Bekanntwerden" zu einer ernstlichen Neigung geführt hat,
von dem Hause des Bräutigams auch eine leise Andeutung zu dem Hause der
Braut gekommen und hier nicht zurückgewiesen ist, so faltete an einem Diens-
oder Donnerstage (womit euphemistisch gleich das ganze künftige Schicksal des
Ehemanns angedeutet zu sein scheint) der Knecht einen Hengst (auch hierin
gibt es keine Wahl). Der Herr in seinem besten Rocke besteigt denselben
und reitet zu dem Hause der Braut. Dort empfängt ihn niemand; er selbst
bindet daS Pferd an, tritt hinein und wird weder, wenn er sich entfernen
will, zum längern Verweilen genöthigt, noch erhält er -- was sonst sofort ge¬
schehen-würde -- Speise und Trank. Nach kurzem Zwiegespräch empfiehlt er
sich; niemand begleitet ihn über die Schwelle. -- Acht Tage später (wiederum
an einem Diens- oder Donnerstage -- eS muß nämlich ein sogenannter
"Fleischtag" sein) reitet er nochmals vor Liebchens Haus. Nun wird er em¬
pfangen, sein Pferd in den Stall geführt und dort gefüttert; er selbst bleibt
bis zum Abende und wird trefflich bewirthet. Hiermit ist er in den Schoß
der Familie aufgenommen. Wenige Tage darauf findet die Verlobung statt,
zu welcher ver Bräutigam jetzt mit dem schönsten Wagen, den prächtigsten
Pferden, neuem Geschirr und in den besten Kleidern kommt. Nun machen die
Verlobten in eben diesem Wagen ihre Visiten. Bald folgt auch die Hochzeit.
Noch einmal thront der Eheherr in aller Majestät und Schönheit, dann wer¬
den Kleider, Geschirr, Kutscherlivree in den Schrank gehängt und der Herr
lenkt fortan -- die Rosse selbst. Mit mathematischer Genauigkeit wickeln
sich diese Ereignisse ab. Den Sonntag nach der Verlobung findet das erste
Aufgebot, drei Wochen später - wieder an einem Diens- oder Donnerstage
-- die Hochzeit statt, den Sonntag darauf aber die "Nachhochzeit." Fleisch-


Greuzboteu II. 1867. SS

deutet schon der Ausdruck „Hausgesinde" hin, welcher die Familie mit Aus¬
schluß der Dienstboten bezeichnet. Aber auch weiter wird die Verwandtschaft
bis zu den entferntesten Graden festgehalten und unter dem allgemeinen Be¬
griffe von „Richterschaft" zusammengefaßt. „Wi sonn Nichte tohoop" —
wir sind Nichten zusammen — ist eine häufig wiederkehrende Redensart, welche
diese entfernte, nicht mehr nach Graden zu bestimmende Verwandtschaft ebenso
bei Frauen wie bei Männern bedeutet. Mehr noch als das innige Familien¬
leben zeugt wol die Naivetät und Ungenirtheit im Umgange der jungen Leute
für eine große Reinheit und Unverdorbenheit der Sitten. Sehr oft geben
sich die jungen Leute Gesellschaften, bei denen nur das eine Gesetz waltet, daß
keiner der Aeltern daran Theil nehmen dürfe. Wo aber solche gemischte Gesell¬
schaften von „Alten" und „Jungen" stattfinden, da ziehen sich die Jungen
bald in ein besonderes Zimmer, meist auf den Boden, zurück, um ungestört
daselbst zu tafeln, zu scherzen und zu tanzen. Der „Kuß in Ehren" ist hier
noch eine liebenswürdige Thatsache.

Wenn das „Bekanntwerden" zu einer ernstlichen Neigung geführt hat,
von dem Hause des Bräutigams auch eine leise Andeutung zu dem Hause der
Braut gekommen und hier nicht zurückgewiesen ist, so faltete an einem Diens-
oder Donnerstage (womit euphemistisch gleich das ganze künftige Schicksal des
Ehemanns angedeutet zu sein scheint) der Knecht einen Hengst (auch hierin
gibt es keine Wahl). Der Herr in seinem besten Rocke besteigt denselben
und reitet zu dem Hause der Braut. Dort empfängt ihn niemand; er selbst
bindet daS Pferd an, tritt hinein und wird weder, wenn er sich entfernen
will, zum längern Verweilen genöthigt, noch erhält er — was sonst sofort ge¬
schehen-würde — Speise und Trank. Nach kurzem Zwiegespräch empfiehlt er
sich; niemand begleitet ihn über die Schwelle. — Acht Tage später (wiederum
an einem Diens- oder Donnerstage — eS muß nämlich ein sogenannter
„Fleischtag" sein) reitet er nochmals vor Liebchens Haus. Nun wird er em¬
pfangen, sein Pferd in den Stall geführt und dort gefüttert; er selbst bleibt
bis zum Abende und wird trefflich bewirthet. Hiermit ist er in den Schoß
der Familie aufgenommen. Wenige Tage darauf findet die Verlobung statt,
zu welcher ver Bräutigam jetzt mit dem schönsten Wagen, den prächtigsten
Pferden, neuem Geschirr und in den besten Kleidern kommt. Nun machen die
Verlobten in eben diesem Wagen ihre Visiten. Bald folgt auch die Hochzeit.
Noch einmal thront der Eheherr in aller Majestät und Schönheit, dann wer¬
den Kleider, Geschirr, Kutscherlivree in den Schrank gehängt und der Herr
lenkt fortan — die Rosse selbst. Mit mathematischer Genauigkeit wickeln
sich diese Ereignisse ab. Den Sonntag nach der Verlobung findet das erste
Aufgebot, drei Wochen später - wieder an einem Diens- oder Donnerstage
— die Hochzeit statt, den Sonntag darauf aber die „Nachhochzeit." Fleisch-


Greuzboteu II. 1867. SS
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[0441] deutet schon der Ausdruck „Hausgesinde" hin, welcher die Familie mit Aus¬ schluß der Dienstboten bezeichnet. Aber auch weiter wird die Verwandtschaft bis zu den entferntesten Graden festgehalten und unter dem allgemeinen Be¬ griffe von „Richterschaft" zusammengefaßt. „Wi sonn Nichte tohoop" — wir sind Nichten zusammen — ist eine häufig wiederkehrende Redensart, welche diese entfernte, nicht mehr nach Graden zu bestimmende Verwandtschaft ebenso bei Frauen wie bei Männern bedeutet. Mehr noch als das innige Familien¬ leben zeugt wol die Naivetät und Ungenirtheit im Umgange der jungen Leute für eine große Reinheit und Unverdorbenheit der Sitten. Sehr oft geben sich die jungen Leute Gesellschaften, bei denen nur das eine Gesetz waltet, daß keiner der Aeltern daran Theil nehmen dürfe. Wo aber solche gemischte Gesell¬ schaften von „Alten" und „Jungen" stattfinden, da ziehen sich die Jungen bald in ein besonderes Zimmer, meist auf den Boden, zurück, um ungestört daselbst zu tafeln, zu scherzen und zu tanzen. Der „Kuß in Ehren" ist hier noch eine liebenswürdige Thatsache. Wenn das „Bekanntwerden" zu einer ernstlichen Neigung geführt hat, von dem Hause des Bräutigams auch eine leise Andeutung zu dem Hause der Braut gekommen und hier nicht zurückgewiesen ist, so faltete an einem Diens- oder Donnerstage (womit euphemistisch gleich das ganze künftige Schicksal des Ehemanns angedeutet zu sein scheint) der Knecht einen Hengst (auch hierin gibt es keine Wahl). Der Herr in seinem besten Rocke besteigt denselben und reitet zu dem Hause der Braut. Dort empfängt ihn niemand; er selbst bindet daS Pferd an, tritt hinein und wird weder, wenn er sich entfernen will, zum längern Verweilen genöthigt, noch erhält er — was sonst sofort ge¬ schehen-würde — Speise und Trank. Nach kurzem Zwiegespräch empfiehlt er sich; niemand begleitet ihn über die Schwelle. — Acht Tage später (wiederum an einem Diens- oder Donnerstage — eS muß nämlich ein sogenannter „Fleischtag" sein) reitet er nochmals vor Liebchens Haus. Nun wird er em¬ pfangen, sein Pferd in den Stall geführt und dort gefüttert; er selbst bleibt bis zum Abende und wird trefflich bewirthet. Hiermit ist er in den Schoß der Familie aufgenommen. Wenige Tage darauf findet die Verlobung statt, zu welcher ver Bräutigam jetzt mit dem schönsten Wagen, den prächtigsten Pferden, neuem Geschirr und in den besten Kleidern kommt. Nun machen die Verlobten in eben diesem Wagen ihre Visiten. Bald folgt auch die Hochzeit. Noch einmal thront der Eheherr in aller Majestät und Schönheit, dann wer¬ den Kleider, Geschirr, Kutscherlivree in den Schrank gehängt und der Herr lenkt fortan — die Rosse selbst. Mit mathematischer Genauigkeit wickeln sich diese Ereignisse ab. Den Sonntag nach der Verlobung findet das erste Aufgebot, drei Wochen später - wieder an einem Diens- oder Donnerstage — die Hochzeit statt, den Sonntag darauf aber die „Nachhochzeit." Fleisch- Greuzboteu II. 1867. SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/441>, abgerufen am 01.09.2024.