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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Mode, und das Mittelalter, der Narr der Restauration, fing an Reden über
die Freiheit zu halten. Ein wunderliches Schauspiel! Ein Gespenst mit der
Rüstung eines vergangenen' Jahrhunderts declamirte über die Gegenwart.
Denn indem sie ihren Inhalt veränderte, hatte die Romantik dennoch ihre alte
Maske beibehalten. In dem Stil Nonsards feiert sie die Eisenbahnen, mit
den Bildern Dantes illustrirt sie die Freiheitskämpfe, und um von der
Gleichheit und Gütergemeinschaft zu rever, sucht sie die Phrasen in dem Wör¬
terbuch jener dunkeln Jahrhunderte, wo alles Despotismus, Elend und Aber¬
glaube wär. Die Statue der Freiheit besprengt sie mit Weihwasser, und an
Stelle des Dichters setzt sie den Schneidernder das historische Co.stum auf der
Bühne herstellen muß. Um einen Eindruck zu machen, sucht man in der Ge¬
schichte und im Leben die unsinnigsten Greuelthaten zusammen, und die wil¬
desten Erfindungen der Phantasie werden durch die Heldinnen des neuen Thea¬
ters, durch Margarethe von Burgund, durch die Brinvilliers und die Lucrezia
Borgia überboten.

Was die romantische Kunstform betrifft, so kann man sie einfach als eine
Ueberhäufung ungewöhnlicher Adjective und Appositionen definiren. Man
kann jedes classische Kunstwerk sehr leicht in ein romantisches verwandeln,
indem man an der betreffenden Stelle die Adjective einschaltet. Der geistvolle
Verfasser dieser Briefe -- es ist kein anderer als Alfred de Musset -- hat
die Probe an einem Fragment aus ?aut et VirKime gemacht, die jeden Un¬
befangenen überzeugen muß. ^neun souci pr"con!ö n'avait riä<t 1<zur trout
na'is, smeuiie inlömpvranee n'avait, oorrompu leur jeune san^; lacune
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ttpeine entr' ouvert-v; l'amour oanüläe, I'innocence aux ^eux Kleus,
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souples Miluclss et leurs darmoiileux mouvemens. Es versteht sich von
selbst, daß der Schelm, der dieses schrieb, die Geißel seiner Satire auch nach
der andern Seite richtete. Der romantischen Schule, welche von dem Grund¬
satz ausging, die Kunst sei um der Kunst willen da, stand die humanitäre
gegenüber, die mittelst der Kunst gute Gesinnungen im Volk verbreiten wollte.
Alfred de Musset zeigt diesen Freunden der Menschheit, daß sie an unbestimm¬
ten Adjectiven und Phrasen aller Art ebenso reich sind, als ihre Gegner, die
Romantiker, daß sie mit ihrer Unruhe, ihrem Eifer, die Welt zu Idealen zu
bekehren, von denen sie selber keine Vorstellung haben, im Grunde immer nur
die Schulreminiscenzen der lykurgischen Verfassung wiederholen, baß ihre An¬
griffe gegen die gesellschaftlichen Institutionen, gegen die Ehe u. s. w. auf
der Verkennung der sehr einfachen Wahrheit beruhen, daß mit jedem Licht
auch Schatten verbunden ist, und daß selbst ihr leitender Grundsatz von der


Mode, und das Mittelalter, der Narr der Restauration, fing an Reden über
die Freiheit zu halten. Ein wunderliches Schauspiel! Ein Gespenst mit der
Rüstung eines vergangenen' Jahrhunderts declamirte über die Gegenwart.
Denn indem sie ihren Inhalt veränderte, hatte die Romantik dennoch ihre alte
Maske beibehalten. In dem Stil Nonsards feiert sie die Eisenbahnen, mit
den Bildern Dantes illustrirt sie die Freiheitskämpfe, und um von der
Gleichheit und Gütergemeinschaft zu rever, sucht sie die Phrasen in dem Wör¬
terbuch jener dunkeln Jahrhunderte, wo alles Despotismus, Elend und Aber¬
glaube wär. Die Statue der Freiheit besprengt sie mit Weihwasser, und an
Stelle des Dichters setzt sie den Schneidernder das historische Co.stum auf der
Bühne herstellen muß. Um einen Eindruck zu machen, sucht man in der Ge¬
schichte und im Leben die unsinnigsten Greuelthaten zusammen, und die wil¬
desten Erfindungen der Phantasie werden durch die Heldinnen des neuen Thea¬
ters, durch Margarethe von Burgund, durch die Brinvilliers und die Lucrezia
Borgia überboten.

Was die romantische Kunstform betrifft, so kann man sie einfach als eine
Ueberhäufung ungewöhnlicher Adjective und Appositionen definiren. Man
kann jedes classische Kunstwerk sehr leicht in ein romantisches verwandeln,
indem man an der betreffenden Stelle die Adjective einschaltet. Der geistvolle
Verfasser dieser Briefe — es ist kein anderer als Alfred de Musset — hat
die Probe an einem Fragment aus ?aut et VirKime gemacht, die jeden Un¬
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souples Miluclss et leurs darmoiileux mouvemens. Es versteht sich von
selbst, daß der Schelm, der dieses schrieb, die Geißel seiner Satire auch nach
der andern Seite richtete. Der romantischen Schule, welche von dem Grund¬
satz ausging, die Kunst sei um der Kunst willen da, stand die humanitäre
gegenüber, die mittelst der Kunst gute Gesinnungen im Volk verbreiten wollte.
Alfred de Musset zeigt diesen Freunden der Menschheit, daß sie an unbestimm¬
ten Adjectiven und Phrasen aller Art ebenso reich sind, als ihre Gegner, die
Romantiker, daß sie mit ihrer Unruhe, ihrem Eifer, die Welt zu Idealen zu
bekehren, von denen sie selber keine Vorstellung haben, im Grunde immer nur
die Schulreminiscenzen der lykurgischen Verfassung wiederholen, baß ihre An¬
griffe gegen die gesellschaftlichen Institutionen, gegen die Ehe u. s. w. auf
der Verkennung der sehr einfachen Wahrheit beruhen, daß mit jedem Licht
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/434>, abgerufen am 27.07.2024.