Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.stimmten malerischen und plastischen Ausdruck zu ersetzen, und auch hier treibt Aus dem Trotz gegen die akademische Regel geht die Neigung hervor, *) Grenzboten II. 18"7. 33
stimmten malerischen und plastischen Ausdruck zu ersetzen, und auch hier treibt Aus dem Trotz gegen die akademische Regel geht die Neigung hervor, *) Grenzboten II. 18»7. 33
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0425" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104092"/> <p xml:id="ID_1204" prev="#ID_1203"> stimmten malerischen und plastischen Ausdruck zu ersetzen, und auch hier treibt<lb/> eS Alfred de Musset ins Extrem, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß durch<lb/> Detaillirung eines einzelnen Moments die herrschende Stimmung verwirrt<lb/> wird. Ebenso redselig, wie Victor Hugos Tiger und Hyänen sich über ihre<lb/> ruchlosen Vorstellungen und Wünsche verbreiten, detaillirt Alfred de Musset<lb/> die Vorstellungen der Rache, deS Hasses, der sinnlichen Lust. Wenn eine<lb/> beleidigte Tänzerin sich an ihrem Liebhaber rächen will, so genügt es ihr nicht,<lb/> daß sie den neuen guten Freund auffordert, ihm den Dolch ins Herz zu stoßen;<lb/> erst fühlt sie sich in der gereizten Stimmung „einer Krähe, der ein Zugwind<lb/> den Geruch von einer Leiche entgegenführt", dann fordert sie ihn auf, ihm<lb/> die Gurgel abzuschneiden, ihn bei den Füßen die Treppe herauszuschleifen, ihm<lb/> das Herz auszureißen, es in vier Stücke zu schneiden und die Stücke in die<lb/> Tasche zu stecken u. s. w. Oder wenn der Dichter selbst sich für ein hübsches<lb/> Freudenmädchen begeistert, das bei einem Regentage im Schmuz watet, so<lb/> wünscht er sich sür den Fall, daß sein Herz einmal das Gefühl der Verehrung<lb/> für diesen gefallenen Engel verleugnen sollte, nicht irgend ein allgemeines<lb/> Uebel herbei, sondern daß der Schmuz, den sie jetzt mit Füßen tritt, ihm ins<lb/> Gesicht fliegen möge.*) Seine Helden verlassen im feurigsten Moment die<lb/> Geliebte, „wie einen alten Schuh, der zu nichts mehr gut ist." Von den<lb/> Stellen, wo der Cynismus beabsichtigt ist, wollen wir schweigen; aber auch<lb/> wo der Dichter eine Moralische und ästhetische Anwandlung hat, verfällt er in<lb/> die nämlichen Bilder. So wird er einmal darüber indignirt, daß ein halbes<lb/> Kind schon daS Metier eines Freudenmädchens treibt, 'und er fragt, ob es<lb/> nicht besser wäre, diesen schönen Leib mit einer Sichel zu verstümmeln, diesen<lb/> schneeweißen Hals zu nehmen und ihm die Knochen umzudrehen. Das Bild<lb/> drückt hier nicht blos die Empfindung aus, es geht mit ihr durch. Das Be¬<lb/> dürfniß nach plastischen Ausdrücken vermittelt zugleich die Stosse.</p><lb/> <p xml:id="ID_1205" next="#ID_1206"> Aus dem Trotz gegen die akademische Regel geht die Neigung hervor,<lb/> die Wendungen des gewöhnlichen Gesprächs in die Poesie einzuführen. Er<lb/> plaudert mitunter, wie man in der Kneipe plaudert, was ihm einfällt, am<lb/> liebsten das Trivialste oder Absurdeste. Leider sind diese Abgeschmacktheiten,<lb/> >n denen man das Studirte peinlich herausfühlt, diejenige Seite seines Talents<lb/> gewesen, die ihn am populärsten gemacht hat. Um gerecht zu sein, muß man<lb/> diese schlechten Einfälle aus seinen Gedichten gradezu ausstreichen; denn er<lb/> hat Besseres geleistet, Einzelnes sogar, was bleiben wird. Durchweg dagegen<lb/> Zeigt sich bei ihm der übertriebene Cultus der Individualität, gleichfalls eine</p><lb/> <note xml:id="FID_26" place="foot"><quote><lg xml:id="POEMID_30" type="poem"><l> 8i woll voour 6e8!ion»is<lb/> Oo gu'U i>ö»tit oll os wowLM,<lb/> l^iisss ü, wo» jroud «ander lit tous<lb/> On w nul'ullius si w'avemvlltl</l></lg></quote> *)</note><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 18»7. 33</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0425]
stimmten malerischen und plastischen Ausdruck zu ersetzen, und auch hier treibt
eS Alfred de Musset ins Extrem, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß durch
Detaillirung eines einzelnen Moments die herrschende Stimmung verwirrt
wird. Ebenso redselig, wie Victor Hugos Tiger und Hyänen sich über ihre
ruchlosen Vorstellungen und Wünsche verbreiten, detaillirt Alfred de Musset
die Vorstellungen der Rache, deS Hasses, der sinnlichen Lust. Wenn eine
beleidigte Tänzerin sich an ihrem Liebhaber rächen will, so genügt es ihr nicht,
daß sie den neuen guten Freund auffordert, ihm den Dolch ins Herz zu stoßen;
erst fühlt sie sich in der gereizten Stimmung „einer Krähe, der ein Zugwind
den Geruch von einer Leiche entgegenführt", dann fordert sie ihn auf, ihm
die Gurgel abzuschneiden, ihn bei den Füßen die Treppe herauszuschleifen, ihm
das Herz auszureißen, es in vier Stücke zu schneiden und die Stücke in die
Tasche zu stecken u. s. w. Oder wenn der Dichter selbst sich für ein hübsches
Freudenmädchen begeistert, das bei einem Regentage im Schmuz watet, so
wünscht er sich sür den Fall, daß sein Herz einmal das Gefühl der Verehrung
für diesen gefallenen Engel verleugnen sollte, nicht irgend ein allgemeines
Uebel herbei, sondern daß der Schmuz, den sie jetzt mit Füßen tritt, ihm ins
Gesicht fliegen möge.*) Seine Helden verlassen im feurigsten Moment die
Geliebte, „wie einen alten Schuh, der zu nichts mehr gut ist." Von den
Stellen, wo der Cynismus beabsichtigt ist, wollen wir schweigen; aber auch
wo der Dichter eine Moralische und ästhetische Anwandlung hat, verfällt er in
die nämlichen Bilder. So wird er einmal darüber indignirt, daß ein halbes
Kind schon daS Metier eines Freudenmädchens treibt, 'und er fragt, ob es
nicht besser wäre, diesen schönen Leib mit einer Sichel zu verstümmeln, diesen
schneeweißen Hals zu nehmen und ihm die Knochen umzudrehen. Das Bild
drückt hier nicht blos die Empfindung aus, es geht mit ihr durch. Das Be¬
dürfniß nach plastischen Ausdrücken vermittelt zugleich die Stosse.
Aus dem Trotz gegen die akademische Regel geht die Neigung hervor,
die Wendungen des gewöhnlichen Gesprächs in die Poesie einzuführen. Er
plaudert mitunter, wie man in der Kneipe plaudert, was ihm einfällt, am
liebsten das Trivialste oder Absurdeste. Leider sind diese Abgeschmacktheiten,
>n denen man das Studirte peinlich herausfühlt, diejenige Seite seines Talents
gewesen, die ihn am populärsten gemacht hat. Um gerecht zu sein, muß man
diese schlechten Einfälle aus seinen Gedichten gradezu ausstreichen; denn er
hat Besseres geleistet, Einzelnes sogar, was bleiben wird. Durchweg dagegen
Zeigt sich bei ihm der übertriebene Cultus der Individualität, gleichfalls eine
8i woll voour 6e8!ion»is
Oo gu'U i>ö»tit oll os wowLM,
l^iisss ü, wo» jroud «ander lit tous
On w nul'ullius si w'avemvlltl
*)
Grenzboten II. 18»7. 33
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |