Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.nicht in der schlechten Wirklichkeit, sondern in der schlechten Poesie; und dabei Daß seine Vorstellungen mehr aus der Literatur, als aus dem wirklichen nicht in der schlechten Wirklichkeit, sondern in der schlechten Poesie; und dabei Daß seine Vorstellungen mehr aus der Literatur, als aus dem wirklichen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0424" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104091"/> <p xml:id="ID_1202" prev="#ID_1201"> nicht in der schlechten Wirklichkeit, sondern in der schlechten Poesie; und dabei<lb/> hat es etwas außerordentlich Wohlthuendes, seine individuellen Gebrechen dem<lb/> Zeitalter in die Schuhe zu schieben. Wenn wir aus den Cynismen des<lb/> Dichters den herrschenden Geist zu schlecht beurtheilen würden, so müssen wir<lb/> uns auf der andern Seite hüten, es mit seinen religiösen Velleitäten zu genau<lb/> zu nehmen, denn auch hier spielen die poetischen Reminiscenzen eine große<lb/> Rolle. Das Vorbild Lamartines hat eine ebenso zahlreiche Nachkommenschaft<lb/> erzeugt, als das Vorbild Crsbillons. Die einen sehnen sich nach einem Gott,<lb/> aus den sie sich stützen können, um die reale Welt zu verachten, die andern<lb/> suchen die Bilder wüster Leidenschaft auf, um an dem Entsetzen darüber ihre<lb/> Empfindsamkeit zu weiden. Bei Alfred de Musset kommt beides zusammen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1203" next="#ID_1204"> Daß seine Vorstellungen mehr aus der Literatur, als aus dem wirklichen<lb/> Leben hervorgehen, zeigen die fortwährenden Citate aus fremden Dichtern.<lb/> Er war 18 Jahre alt, als er 1828 zuerst poetisch auftrat. Damals war<lb/> Byron, wenn auch in der sentimentalen Ueberkleidung Lamartines, der Lieb¬<lb/> ling der französischen Jugend geworden, die romantische Schule hatte die<lb/> spanische, italienische und deutsche Poesie entdeckt, der Einfluß Chateaubriands,<lb/> namentlich seines Ren«, machte sich in der schwülen Luft der Restauration<lb/> fühlbar, da man ihn im kriegerischen Lärm der Kaiserzeit überhört hatte.<lb/> Alfred de Musset steckte, wie sein Geistesverwander Msrimse, die Maske<lb/> eines Südländers auf, und seine ersten poetischen Werke, in der Form frag¬<lb/> mentarisch wie der Faust: Lontes et'lZspÄAns et ä'ltalie, 1830 (von ?as/; iss<lb/> msrrori8 ein kön; ?ortia; le Sauls; Narcloens); spestaclö ckems kau-<lb/> tsuil, 1833 coups se iss Isvres; u, quoi rsvvnt iss jeunss lMss-;<lb/> mouna, Kolla); scheinen durchweg unter dem Einfluß eiivr tropischen Sonne<lb/> geschrieben. In der conventionellen Poesie der Kaiserzeit fand er einen Mangel<lb/> an Kraft und beging nun den Fehler, die Kraft in der Hitze zu suchen. Von<lb/> Msrimse, der ganz ähnliche Dinge darstellt, unterscheidet er sich dadurch, daß<lb/> dieser ein wirklicher Künstler ist und seinen wilden Stoff objectiv und unbe¬<lb/> fangen darstellt, so daß wir nicht daran denken, aus diesen Bildern eine mo¬<lb/> ralische Lehre zuziehen, über die wir ein Urtheil abzugeben hätten. Bei Alfred<lb/> de Musset dagegen tritt die Erzählung ganz hinter die Reflexion zurück; ste<lb/> gibt ihm eigentlich nur Gelegenheit zu lyrischen Erclamativnen, und so seu^<lb/> wir gezwungen, den Dichter für das, was er darstellt, verantwortlich<lb/> machen. — Ebenso wie die Schwächlichkeit der conventionellen Poesie, ver¬<lb/> abscheute er die Heuchelei der moralischen Phrasen. Es war in der That<lb/> Grund vorhanden, sich jenen hochklingenden Redensarten zu widersetzen, aber<lb/> Alfred de Musset treibt diese Empörung so weit, daß er überall Heuchele'<lb/> sucht, wo ihm ein moralischer Inhalt entgegentritt. Die romantische Schuld<lb/> strebte überhaupt danach, die Umschreibungen des Classtcismus durch den be-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0424]
nicht in der schlechten Wirklichkeit, sondern in der schlechten Poesie; und dabei
hat es etwas außerordentlich Wohlthuendes, seine individuellen Gebrechen dem
Zeitalter in die Schuhe zu schieben. Wenn wir aus den Cynismen des
Dichters den herrschenden Geist zu schlecht beurtheilen würden, so müssen wir
uns auf der andern Seite hüten, es mit seinen religiösen Velleitäten zu genau
zu nehmen, denn auch hier spielen die poetischen Reminiscenzen eine große
Rolle. Das Vorbild Lamartines hat eine ebenso zahlreiche Nachkommenschaft
erzeugt, als das Vorbild Crsbillons. Die einen sehnen sich nach einem Gott,
aus den sie sich stützen können, um die reale Welt zu verachten, die andern
suchen die Bilder wüster Leidenschaft auf, um an dem Entsetzen darüber ihre
Empfindsamkeit zu weiden. Bei Alfred de Musset kommt beides zusammen.
Daß seine Vorstellungen mehr aus der Literatur, als aus dem wirklichen
Leben hervorgehen, zeigen die fortwährenden Citate aus fremden Dichtern.
Er war 18 Jahre alt, als er 1828 zuerst poetisch auftrat. Damals war
Byron, wenn auch in der sentimentalen Ueberkleidung Lamartines, der Lieb¬
ling der französischen Jugend geworden, die romantische Schule hatte die
spanische, italienische und deutsche Poesie entdeckt, der Einfluß Chateaubriands,
namentlich seines Ren«, machte sich in der schwülen Luft der Restauration
fühlbar, da man ihn im kriegerischen Lärm der Kaiserzeit überhört hatte.
Alfred de Musset steckte, wie sein Geistesverwander Msrimse, die Maske
eines Südländers auf, und seine ersten poetischen Werke, in der Form frag¬
mentarisch wie der Faust: Lontes et'lZspÄAns et ä'ltalie, 1830 (von ?as/; iss
msrrori8 ein kön; ?ortia; le Sauls; Narcloens); spestaclö ckems kau-
tsuil, 1833 coups se iss Isvres; u, quoi rsvvnt iss jeunss lMss-;
mouna, Kolla); scheinen durchweg unter dem Einfluß eiivr tropischen Sonne
geschrieben. In der conventionellen Poesie der Kaiserzeit fand er einen Mangel
an Kraft und beging nun den Fehler, die Kraft in der Hitze zu suchen. Von
Msrimse, der ganz ähnliche Dinge darstellt, unterscheidet er sich dadurch, daß
dieser ein wirklicher Künstler ist und seinen wilden Stoff objectiv und unbe¬
fangen darstellt, so daß wir nicht daran denken, aus diesen Bildern eine mo¬
ralische Lehre zuziehen, über die wir ein Urtheil abzugeben hätten. Bei Alfred
de Musset dagegen tritt die Erzählung ganz hinter die Reflexion zurück; ste
gibt ihm eigentlich nur Gelegenheit zu lyrischen Erclamativnen, und so seu^
wir gezwungen, den Dichter für das, was er darstellt, verantwortlich
machen. — Ebenso wie die Schwächlichkeit der conventionellen Poesie, ver¬
abscheute er die Heuchelei der moralischen Phrasen. Es war in der That
Grund vorhanden, sich jenen hochklingenden Redensarten zu widersetzen, aber
Alfred de Musset treibt diese Empörung so weit, daß er überall Heuchele'
sucht, wo ihm ein moralischer Inhalt entgegentritt. Die romantische Schuld
strebte überhaupt danach, die Umschreibungen des Classtcismus durch den be-
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