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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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nur eine große Aristokratie des Besitzes, sondern auch des Geistes, Wie einst
vom Becken des Lemans sich die Cultur Bahn brach in die Schweizergaue,
wie der Weinstock, das Brotkorn, der edle Obstbaum von hier "us sich nach
Norden und Osten verbreitete, so beherrschte Genf seit Jahrhunderten auch
geistig einen großen Bezirk, ja zur Zeit der Reformation und durch den genia¬
len Jean Jacques die halbe Welt. Seine günstige Lage und die intelligente
Betriebsamkeit seiner Bewohner machte es frühe schon zu einer industriellen
und Handelsstadt; seine isolirte und ausgesetzte Position und seine Wohlhaben¬
heit reizte die Begehrlichkeit seiner Nachbarn. Gens war eine kriegerische und
auf seine Freiheit stolze Stadt. So etwas von Stolz ist dem echten Genfer
auch bis heute geblieben. Man sieht dies schon daraus, daß beinahe alle
Dienstboten und niederen Gewerbsleute nicht Genfer, sondern Savoyarden,
Deutsche, Waadtländcr und Freiburger sind. Ich kenne keine''deutsche oder
französische Stadt von gleichem oder selbst größerm Umfange, die eine solche
Gesellschaft bedeutender und hervorragender Männer aufzuzählen hätte, wie
das edle Gens in seiner Geschichte.

In der Arzneikunst, besonders aber in den allgemeinen Naturwissenschaften,
in der Geschichte, im Ins und in der Theologie haben die Genfer Außer¬
ordentliches geleistet, viel weniger in der Poesie und Philosophie. In der
letztern aber hat Rousseau wol die Arbeit für seine ganze Vaterstadt übernommen.

Mancherlei schwere Schicksale hat Genf muthig und im ruhigen Gleich¬
gewichte seines Werthes und Charakters siegreich überstanden. Um so auf-
fallender dünkt es mich, daß die, oberflächlich betrachtet, unscheinbaren demo-
kratisch-radicalen Reformen der vergangenen Jahre ihm, d. h- dem alten
Genius der freien Stadt, so nahe gehen. Sie haben Genf ganz aus der
Bahn seiner bisherigen Entwicklung und der Autorität seiner früheren Tra¬
ditionen geworfen und nicht nur dies, sie haben tief und zerstörend in das
innere geistig gesellige Leben eingegriffen. Es war ein feiner Organismus
des städtischen Lebens an diesen Usern; die Hand, die ihn in andere Geleise
führen wollte, ist ihm zu roh gewesen. Darum mußte James Fazy, den ich
nur als einen talentvollen und ehrgeizigen Demagogen habe kennen lernen,
da er in der Mitte von Genfs Bürgerschaft keinen Haltpunkt fand, fremde
Elemente, die Arbeitervorstadt Se. Gervais und die Katholiken der ultrawon-
tanen Richtung zu Hilfe rufen.

Es ist ein sonderbarer Gegensatz zwischen den radicalen Umwälzungen w
der deutschen und in der französischen Schweiz zu Tage getreten. Auf die
Waadt, aus Neuenburg und Genf haben sie nicht wohlthätig zurückgewirkt-
Während sie in Bern und Zürich Hochschulen hervorriefen und den Volks¬
schulunterricht mächtig hoben, zerstörten die Revolutionen in Lausanne, Gens
und Neuenburg die trefflichen Akademien, versprengten die berühmtesten Lehr^,


nur eine große Aristokratie des Besitzes, sondern auch des Geistes, Wie einst
vom Becken des Lemans sich die Cultur Bahn brach in die Schweizergaue,
wie der Weinstock, das Brotkorn, der edle Obstbaum von hier «us sich nach
Norden und Osten verbreitete, so beherrschte Genf seit Jahrhunderten auch
geistig einen großen Bezirk, ja zur Zeit der Reformation und durch den genia¬
len Jean Jacques die halbe Welt. Seine günstige Lage und die intelligente
Betriebsamkeit seiner Bewohner machte es frühe schon zu einer industriellen
und Handelsstadt; seine isolirte und ausgesetzte Position und seine Wohlhaben¬
heit reizte die Begehrlichkeit seiner Nachbarn. Gens war eine kriegerische und
auf seine Freiheit stolze Stadt. So etwas von Stolz ist dem echten Genfer
auch bis heute geblieben. Man sieht dies schon daraus, daß beinahe alle
Dienstboten und niederen Gewerbsleute nicht Genfer, sondern Savoyarden,
Deutsche, Waadtländcr und Freiburger sind. Ich kenne keine''deutsche oder
französische Stadt von gleichem oder selbst größerm Umfange, die eine solche
Gesellschaft bedeutender und hervorragender Männer aufzuzählen hätte, wie
das edle Gens in seiner Geschichte.

In der Arzneikunst, besonders aber in den allgemeinen Naturwissenschaften,
in der Geschichte, im Ins und in der Theologie haben die Genfer Außer¬
ordentliches geleistet, viel weniger in der Poesie und Philosophie. In der
letztern aber hat Rousseau wol die Arbeit für seine ganze Vaterstadt übernommen.

Mancherlei schwere Schicksale hat Genf muthig und im ruhigen Gleich¬
gewichte seines Werthes und Charakters siegreich überstanden. Um so auf-
fallender dünkt es mich, daß die, oberflächlich betrachtet, unscheinbaren demo-
kratisch-radicalen Reformen der vergangenen Jahre ihm, d. h- dem alten
Genius der freien Stadt, so nahe gehen. Sie haben Genf ganz aus der
Bahn seiner bisherigen Entwicklung und der Autorität seiner früheren Tra¬
ditionen geworfen und nicht nur dies, sie haben tief und zerstörend in das
innere geistig gesellige Leben eingegriffen. Es war ein feiner Organismus
des städtischen Lebens an diesen Usern; die Hand, die ihn in andere Geleise
führen wollte, ist ihm zu roh gewesen. Darum mußte James Fazy, den ich
nur als einen talentvollen und ehrgeizigen Demagogen habe kennen lernen,
da er in der Mitte von Genfs Bürgerschaft keinen Haltpunkt fand, fremde
Elemente, die Arbeitervorstadt Se. Gervais und die Katholiken der ultrawon-
tanen Richtung zu Hilfe rufen.

Es ist ein sonderbarer Gegensatz zwischen den radicalen Umwälzungen w
der deutschen und in der französischen Schweiz zu Tage getreten. Auf die
Waadt, aus Neuenburg und Genf haben sie nicht wohlthätig zurückgewirkt-
Während sie in Bern und Zürich Hochschulen hervorriefen und den Volks¬
schulunterricht mächtig hoben, zerstörten die Revolutionen in Lausanne, Gens
und Neuenburg die trefflichen Akademien, versprengten die berühmtesten Lehr^,


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[0400] nur eine große Aristokratie des Besitzes, sondern auch des Geistes, Wie einst vom Becken des Lemans sich die Cultur Bahn brach in die Schweizergaue, wie der Weinstock, das Brotkorn, der edle Obstbaum von hier «us sich nach Norden und Osten verbreitete, so beherrschte Genf seit Jahrhunderten auch geistig einen großen Bezirk, ja zur Zeit der Reformation und durch den genia¬ len Jean Jacques die halbe Welt. Seine günstige Lage und die intelligente Betriebsamkeit seiner Bewohner machte es frühe schon zu einer industriellen und Handelsstadt; seine isolirte und ausgesetzte Position und seine Wohlhaben¬ heit reizte die Begehrlichkeit seiner Nachbarn. Gens war eine kriegerische und auf seine Freiheit stolze Stadt. So etwas von Stolz ist dem echten Genfer auch bis heute geblieben. Man sieht dies schon daraus, daß beinahe alle Dienstboten und niederen Gewerbsleute nicht Genfer, sondern Savoyarden, Deutsche, Waadtländcr und Freiburger sind. Ich kenne keine''deutsche oder französische Stadt von gleichem oder selbst größerm Umfange, die eine solche Gesellschaft bedeutender und hervorragender Männer aufzuzählen hätte, wie das edle Gens in seiner Geschichte. In der Arzneikunst, besonders aber in den allgemeinen Naturwissenschaften, in der Geschichte, im Ins und in der Theologie haben die Genfer Außer¬ ordentliches geleistet, viel weniger in der Poesie und Philosophie. In der letztern aber hat Rousseau wol die Arbeit für seine ganze Vaterstadt übernommen. Mancherlei schwere Schicksale hat Genf muthig und im ruhigen Gleich¬ gewichte seines Werthes und Charakters siegreich überstanden. Um so auf- fallender dünkt es mich, daß die, oberflächlich betrachtet, unscheinbaren demo- kratisch-radicalen Reformen der vergangenen Jahre ihm, d. h- dem alten Genius der freien Stadt, so nahe gehen. Sie haben Genf ganz aus der Bahn seiner bisherigen Entwicklung und der Autorität seiner früheren Tra¬ ditionen geworfen und nicht nur dies, sie haben tief und zerstörend in das innere geistig gesellige Leben eingegriffen. Es war ein feiner Organismus des städtischen Lebens an diesen Usern; die Hand, die ihn in andere Geleise führen wollte, ist ihm zu roh gewesen. Darum mußte James Fazy, den ich nur als einen talentvollen und ehrgeizigen Demagogen habe kennen lernen, da er in der Mitte von Genfs Bürgerschaft keinen Haltpunkt fand, fremde Elemente, die Arbeitervorstadt Se. Gervais und die Katholiken der ultrawon- tanen Richtung zu Hilfe rufen. Es ist ein sonderbarer Gegensatz zwischen den radicalen Umwälzungen w der deutschen und in der französischen Schweiz zu Tage getreten. Auf die Waadt, aus Neuenburg und Genf haben sie nicht wohlthätig zurückgewirkt- Während sie in Bern und Zürich Hochschulen hervorriefen und den Volks¬ schulunterricht mächtig hoben, zerstörten die Revolutionen in Lausanne, Gens und Neuenburg die trefflichen Akademien, versprengten die berühmtesten Lehr^,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/400>, abgerufen am 27.07.2024.